Gotteszahl
fauchte sie zwei Minuten lang unzusammenhängende Beschimpfungen und legte dann auf. Synnøve hatte nicht einmal sagen können, worum es ging.
Marianne war und blieb verschwunden.
Synnøve hatte seit anderthalb Wochen kaum etwas gegessen. Die Tage seit Mariannes Verschwinden hatte sie mit Suchen verbracht. Nachts machte sie endlos lange Spaziergänge mit den Huskies. Jetzt brachte sie nicht einmal mehr das über sich. An den vergangenen beiden Tagen hatten die Tiere sich mit dem Hundehof zufriedengeben müssen. Am Vorabend hatte sie vergessen, sie zu füttern. Als ihr das plötzlich einfiel, war es schon zwei Uhr nachts. Ihr Weinen hatte die Leithündin erschreckt, und sie hatte gefiept, mit dem Schwanz gewedelt und unendlich viel Aufmerksamkeit verlangt, ehe sie das Fressen auch nur anrührte. Am Ende war Synnøve in ein Hundehaus gekrochen und dort eingeschlafen, mit Kaja in den Armen. Sie war eine halbe Stunde später starr vor Kälte aufgewacht.
Wieder ging die Türklingel.
Synnøve blieb liegen. Sie wollte keinen Besuch. Viele waren gekommen, nur wenige hatte sie eingelassen.
Noch einmal.
Steif erhob sie sich vom Sofa und faltete die Wolldecke zusammen. Ihr Nacken war verkrampft, und sie massierte sich selbst, während sie zur Haustür schlurfte und sich darauf vorbereitete, einer weiteren Freundin klarmachen zu müssen, dass sie allein sein wollte.
Als sie öffnete und Kjetil Berggren auf der Treppe sah, wurde ihr schwindlig vor Erleichterung. Marianne war gefunden, das wusste sie sofort, und Kjetil Berggren war gekommen, um die gute Nachricht zu überbringen. Alles war ein schreckliches Missverständnis gewesen, aber jetzt würde Marianne zurückkommen und alles würde sein wie früher.
Kjetil Berggren war so ernst. Synnøve trat einen Schritt zurück. Die Haustür glitt weit auf. Hinter Kjetil stand eine Frau. Sie mochte um die fünfzig sein und trug einen Wintermantel. Um den Hals, den alle anderen in der beißende Januarkälte mit einem Schal geschützt hätten, lag ein Pastorenkragen.
Die Pfarrerin war so ernst wie der Polizist.
Synnøve trat noch einen Schritt zurück, dann sank sie in die Knie und hob die Hände an ihr Gesicht. Die Nägel gruben sich in die Haut und zeichneten auf beiden Wangen blutrote Streifen. Sie heulte, ein gleichmäßiges, klagendes Geräusch, wie Kjetil Berggren es noch nie gehört hatte. Erst als Synnøve anfing, mit dem Kopf auf die Bodenfliesen zu schlagen, versuchte er, sie hochzuziehen. Sie schlug nach ihm, hart und wütend, und sank wieder in sich zusammen.
Und die ganze Zeit dieses Heulen.
Das heftige Schmerzgeräusch ließ die Hunde im Hinterhof antworten. Sechs Polarhunde heulten wie die Wölfe. Der Klagechor stieg zur tief hängenden Wolkendecke auf und war bis nach Framnes zu hören, auf dem anderen Ufer des grauen und winteröden Fjords.
Eine Sirene zerriss das gleichmäßige Verkehrsdröhnen, als der Wagen vor einer roten Ampel hielt. Im Rückspiegel bemerkte Lukas ein blaues flackerndes Licht, und er versuchte, mit dem Wagen dichter an den Bordstein heranzufahren, ohne auf dem Bürgersteig zu landen. Der Krankenwagen jagte in viel zu hohem Tempo an der Autoschlange vorbei und hätte fast einen älteren Mann umgerissen, der dicht vor der Motorhaube von Lukas’ großem BMW X 5 vorbeiging. Der Mann war offenbar taub.
»Das war wirklich um Haaresbreite«, sagte Lukas zu seinem Vater und starrte dem verdutzten Fußgänger hinterher, bis die Wagen hinter ihm anfingen zu hupen.
Erik Lysgaard gab keine Antwort. Er saß neben Lukas, so stumm wie immer. Seine Kleidung war deutlich zu groß geworden. Der Sicherheitsgurt ließ ihn flach und mager wirken. Seine Haare hingen in traurigen Strähnen über den Schädel und er wirkte zehn Jahre älter. Lukas hatte den Vater an diesem Morgen unter die Dusche schicken müssen, er hatte einen harschen Geruch ausgeströmt, als er sich am Vorabend widerwillig hatte umarmen lassen.
Nichts hatte sich geändert.
Noch einmal hatte Lukas darauf bestanden, den Vater zu sich nach Os zu holen. Noch einmal hatte Erik protestiert, noch einmal hatte der Sohn sich durchgesetzt. Die Kinder hatten sich beim Anblick des Großvaters wieder so geängstigt, und Astrid hätte zweimal fast die Beherrschung verloren.
»Jetzt müssen wir einen Plan machen«, sagte Lukas. »Die Polizei sagt, die Beisetzung kann irgendwann nächste Woche stattfinden. Es wird wohl oder übel eine große Veranstaltung werden. Mutter war vielen Menschen
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