Gotteszahl
wichtig.«
Erik saß stumm und ausdruckslos da.
»Vater, du musst einfach etwas dazu sagen.«
»Du kannst alles entscheiden«, sagte der Vater, »mir ist es egal.«
Lukas streckte die Hand nach dem Radio aus und schaltete es aus. Er packte das Lenkrad so hart, das seine Fingerknöchel weiß wurden, und das Tempo, das er auf dem letzten Stück zum Årstadvei vorlegte, hätte ihn bei einer Verkehrskontrolle den Führerschein gekostet. Als er die Auffahrt zum Nubbebakken erreicht hatte, kreischten die Reifen, als er nach links abbog, auf die gegenüberliegende Straßenseite fuhr und auf die Bremse trat. »Vater«, sagte er leise, fast flüsternd. »Warum ist das Bild nicht mehr da?«
Zum ersten Mal sah sein Vater ihn an. »Das Bild?«
» Das Bild in Mutters Zimmer.«
Erik wandte seinen Blick wieder ab. »Ich will nach Hause.«
»Auf dem Regalbrett standen immer vier Bilder. Sie standen da, als ich am Tag nach Mutters Tod bei dir war. Ich weiß das noch, weil der Polizist sich in der Tür geirrt hatte. Ein Foto ist nicht mehr da. Warum nicht?«
»Ich will nach Hause.«
»Du kommst ja nach Hause. Aber antworte, Vater!«
Lukas schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Arm und er fluchte lautlos.
»Fahr mich nach Hause«, sagte Erik. »Jetzt sofort.«
Die Kälte in der Stimme seines Vaters ließ Lukas verstummen. Er schaltete. Seine Hände zitterten, und er fühlte sich fast so aufgewühlt wie damals, als die Polizei mit der Nachricht von dem Mord vor der Tür gestanden hatte. Als sie jetzt auf den kleinen Hofplatz hinter dem offenen Tor zum Haus seines Vaters fuhren, konnte er die schöne Frau auf dem verschwundenen Bild deutlich vor sich sehen. Sie war dunkel, und obwohl das Foto schwarz-weiß war, glaubte er, dass sie blaue Augen hatte. Genau wie er. Ihre Nase war gerade und schmal, wie seine, und im Lächeln konnte man deutlich sehen, dass ein Schneidezahn sich über den anderen legte.
Genau wie bei ihm.
Das Foto zeigte zu wenig von der Kleidung, um zu erraten, wann es aufgenommen worden war. Erst als Teenager war ihm das Foto überhaupt aufgefallen. Jetzt, da er eigene Kinder hatte und wusste, wie aufmerksam Kinder sein können, war er zu dem Schluss gekommen, dass es früher nicht dort gestanden hatte. Einmal hatte er gefragt, wer die Frau sei.
Seine Mutter hatte gelächelt, seine Wange gestreichelt und geantwortet: »Eine Freundin, die du nicht kennst.«
Lukas hielt an und stieg aus, um seinem Vater zu helfen.
Sie wechselten kein Wort und auch keinen Blick.
Als die Tür hinter Erik ins Schloss fiel, setzte Lukas sich ins Auto. Dort blieb er sitzen, lange, während der Schneeregen die Windschutzscheibe undurchsichtig machte und die Temperatur im Wagen sank.
Die Freundin seiner Mutter hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit ihm selbst.
»Die sieht dir aber ähnlich! Spitting image! «
Karen Winslow lachte, als sie Ragnhilds Bild in die Hand nahm. Sie hielt es schräg, damit es das Licht der Deckenlampe nicht reflektierte, und schüttelte den Kopf. Ragnhild lag in der Badewanne, mit Shampoo in den Haaren und einer riesigen Badeente auf dem Bauch. Sie sah aus wie von dem knallgelben Monster überfallen.
»Das ist also die jüngere Tochter«, sagte Karen und gab das Bild zurück. »Und jetzt zeig die ältere.«
Das Bild war zu Weihnachten aufgenommen worden. Kristiane saß mit ernster Miene auf der Treppe vor dem Haus im Hauges vei. Sie starrte ausnahmsweise voll in die Kamera und hatte gerade die Mütze abgenommen. Ihre dünnen Haare standen vom Kopf ab, und das Licht, das durch das Haustürfenster fiel, malte ihr einen Heiligenschein.
»Wow«, sagte Karen und wurde ernst. »Was für ein unglaublich schönes Kind! Wie alt ist sie? Neun? Zehn?«
»Bald vierzehn«, sagte Inger Johanne. »Und sie ist nicht ganz wie andere Kinder.«
Es fiel ihr überraschend leicht, das zu sagen.
»Was fehlt ihr denn?«
»Wer weiß«, sagte Inger Johanne. »Kristiane wurde mit einem Herzfehler geboren und musste schon im ersten Jahr drei große Operationen über sich ergehen lassen. Ob es dabei passiert ist oder ob sie mit einer angeborenen Behinderung lebt, hat bisher niemand so richtig feststellen können.«
Wieder lächelte Karen und sah sich das Bild genauer an. Ihre alte Kommilitonin machte Inger Johanne klar, wie viele Jahre vergangen waren. Karen war immer schlank und durchtrainiert gewesen. Jetzt hatte sie ein strafferes, magereres Gesicht, und ihre schwarzen Haare
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