Gotteszahl
Geheimen hatte er sich bei vektklubb.no angemeldet, einem Internetforum, das ihm sofort erbarmungslos mitteilte, dass er sich täglich 4000 Kalorien zuführte. Diese Zahl auf 1800 zu reduzieren grenzte an Folter.
Noch immer lagen drei Schokoriegel im Schreibtisch. Er öffnete die Schublade und starrte die gestreiften Verpackungen an. Ein halber Riegel konnte doch nicht die Welt bedeuten. Er hatte zwar vor drei Tagen die Kalorien der Schokolade auf der Tabelle von vektklubb.no nachgeschlagen und beschlossen, dieses Teufelszeugs nie wieder anzurühren. Aber jetzt hatte er solchen Hunger, dass sich seine Gedanken verwirrten.
Das Telefon klingelte.
»Yngvar Stubø hier«, sagte er freundlicher als sonst, überaus dankbar für die Ablenkung.
»Hier ist Sigmund.«
Sigmund Berli war Yngvars Freund und seit fast zehn Jahren sein engster Mitarbeiter. Er war zwar durchaus nicht das schärfste Messer im Werkzeugkasten der Kripo, aber er arbeitete hart und war überaus loyal. Sigmund wählte die Rechtspopulisten, hielt zum Fußballclub Vålerenga und aß seit seiner Scheidung vor einem knappen Jahr siebenmal pro Woche Fertiggerichte. Seine knappe Freizeit verbrachte er mit seinen beiden Söhnen, die er über alles liebte. Sigmund Berli war Yngvars Verankerung in der Tiefe des Volkes. Und dafür war Yngvar wirklich dankbar. In Gegenwart von Inger Johannes Freunden und Kollegen von der Universität brachte er immer häufiger kein einziges Wort hervor. Es führte ja zu nichts, ihnen zu erzählen, wie in Norwegen das wirkliche Leben ablief. Da war ihm Sigmund Berli mit seinen Verallgemeinerungen doch lieber, die entsprangen immerhin einem Leben unter normalen Menschen.
»Wir haben einen verdammt dicken Stapel Hassbriefe gefunden«, sagte Sigmund.
»Bist du noch in Bergen?«
»Ja. In einem Safe im Bischöflichen Büro.«
»Du bist in einem Safe im Bischöflichen Büro?«
»Lass den Scheiß. Die Briefe. Da gibt es einen Safe, von dem wir erst vor ein paar Tagen erfahren haben. Die Sekretärin hatte einen Code, aber der war falsch. Jetzt hat ein Typ von der Herstellerfirma die Sache geritzt. Und da lag ganz schön viel Scheiß drin, um das mal so zu sagen.«
»Und worum ging es?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Hab jetzt keinen Nerv für solche Spielchen, Sigmund.«
»Homokram aller Art.«
Er konnte Sigmund am anderen Ende der Leitung geradezu lächeln hören.
»Was denn sonst«, sagte Sigmund jetzt.
»Reden wir hier von Mails«, fragte Yngvar, »oder von normalen Briefen? Anonym?«
»Von allem etwas. Das meiste sind ausgedruckte Mails. Die meisten anonym, aber einige auch mit vollem Namen. Es ist vor allem Dreck, Yngvar, Kloake, ganz einfach. Und weißt du, was ich nie kapiert habe?«
Ziemlich viel, dachte Yngvar.
»Warum viele Leute sich dermaßen darüber aufregen, was andere im Bett machen. Der Eishockeytrainer von meinen Jungs ist schwul. Total toller Typ. Maskulin, nimmt die Jungs hart ran, ist total in Ordnung. Kommt zu jedem Training. Der Idiot, den sie vorher hatten, war ganz anders, und dabei hatte er Frau und vier Kinder. Ein paar Eltern haben angefangen, Scheiß zu reden, als der Typ sich in der Zeitung geoutet hat, aber da hättest du mal den alten Sigmund Berli hören sollen!«
Das Lachen ließ die Leitung knistern. »Hab die Sache zurechtgerückt, echt! Ich seh einfach nicht, was ein ganz normaler Schwuler mit einem Kinderschänder zu tun hat. Und jetzt hab ich einen Freund fürs Leben in dem Kerl. Wir waren zweimal Bier trinken, und er ist total sympathisch. Außerdem saugut auf dem Eis. War in der Juniorennationalmannschaft, bis es nicht mehr ging. Homophobe Bande, diese Leute.«
Yngvar hörte mit wachsendem Erstaunen zu. Noch immer ruhte sein Blick auf der gestreiften Schokoladenpackung. »Was macht ihr mit den Briefen?«, fragte er zerstreut.
Sigmund kaute auf irgendetwas herum. »Tut mir leid«, sagte er mit vollem Mund. »Musste nur irgendwas in den Magen kriegen. Die haben hier in Bergen wahnsinnig guten Bienenstich.«
Die Schublade mit der Schokolade wurde mit einem Knall geschlossen.
»Wir haben einen Computerheini auf ihren Rechner angesetzt. Der soll IP-Adressen und so was finden. Die Briefe werden natürlich ebenfalls untersucht. Wüsste ja gern, warum sie das alles aufbewahrt hat. Anzeige hat sie nie erstattet«, fuhr Sigmund fort.
»Die meisten öffentlichen Personen kriegen solche Post, zumindest, wenn sie umstrittene Ansichten vertreten. Die wenigsten unternehmen dann irgendwas.
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