Gotteszahl
Organisationen abgehalten wurden, waren mehr Antidemonstranten als Demonstranten.«
Sie holte tief Luft, ehe sie weiterredete: »Aber wann werden diese Gemeinden kriminell? Auf der einen Seite ist es eindeutig, dass sie hassen. Ihr Sprachgebrauch und nicht zuletzt die ganz unverhältnismäßige Aufmerksamkeit, die sie ebendiesem Bereich widmen, weisen auf glattweg verrückten Hass hin. Außerdem weigern sich viele ihrer geistlichen Führer, sich zum Beispiel von dem Mord an Satender zu distanzieren. Andererseits: Die Meinungsfreiheit geht sehr weit, und das ist ja auch richtig so. Viele solcher Gemeinden in den ganzen USA hüten sich davor, offen zum Mord aufzufordern.«
»Sie legen das Fundament für hasserfüllte Übergriffe, sie distanzieren sich nicht davon, und später waschen sie ihre Hände in Unschuld, weil sie nicht offen gesagt haben: ›Tötet sie.‹«
»Genau«, Karen nickte. »Und wenn ein Geistlicher gen Himmel ruft: Die Homos suhlen sich in Sünde und werden eines qualvollen Todes sterben, sie werden in der Hölle brennen, sie werden … Na ja, später kann er dann sagen, er habe nur den Willen Gottes genannt. Dass eins von Gottes Kindern ihn dann beim Wort genommen hat, ist nicht sein Problem. Und Religions- und Meinungsfreiheit sind, wie du sicher weißt …«
»… die eigentliche Grundlage für die Existenz der USA«, vollendete Inger Johanne den Satz.
»Noch Kaffee?« Der Kellner hatte wahrscheinlich ein Universitätsexamen in Geduld abgelegt. Sie saßen seit über einer halben Stunde allein im Lokal. Die Bedienung wartete nur darauf, dass sie endlich fertig würden. Trotzdem ließ der Mann sich die Zeit, ihre Kaffeetassen aufzufüllen und Nachschub an heißer Milch zu holen.
»Das alles ist schlimm«, sagte Karen, als er wieder gegangen war. »Und neben den extremen Gemeinden an mehreren Orten der USA haben wir die eher etablierten Organisationen. Wie die American Family Association. Sie fordern natürlich ebenfalls nicht zum Morden auf, aber sie machen viel Lärm und sorgen für ein sich stetig verschlechterndes Klima in der offiziellen Diskussion. Vor einiger Zeit haben sie sogar eine Boykottaktion gegen McDonald’s gestartet, stell dir das vor.«
»Das klingt doch eigentlich vernünftig«, sagte Inger Johanne lächelnd. »Aber was war der Grund?«
»McDonald’s hat bei einem Gay-Pride-Arrangement Werbefläche gekauft.«
»Und was ist dann passiert?«
»Die ganze Sache ging zum Glück den Bach runter. Diesmal. Aber einige dieser Gruppen sind mächtig, sie haben Geld und Einfluss und scheuen keine Mittel. Sie hassen, aber wir können sie nicht als kriminell bezeichnen. Das Beängstigendste ist …«
Sie hob das Glas zu einem stummen Prost. »Wir haben in letzter Zeit Anzeichen für eine systematischere Verfolgung bemerkt. Sechs Morde an homosexuellen Männern im vergangenen Jahr, drei in New York, einer in Seattle und zwei in Dallas, sind noch immer nicht aufgeklärt. Lange wurde jeder Fall von der lokalen Polizei für sich behandelt. Die Mordmethoden waren unterschiedlich und die Umstände an sich ließen sich auch nicht vergleichen. Unser Büro hat dann aber festgestellt, dass zwei der Opfer Vettern waren, das dritte war mit dem ersten zur Schule gegangen, das vierte war mit dem zweiten auf Interrailtour in Europa gewesen, und die beiden letzten hatten im Zeitraum von zwei Jahren kurze Beziehungen zum vierten. Das FBI hat die Sache jetzt übernommen, um das mal so zu sagen. Nicht dass sie bei der Suche nach den Tätern viel weiter gekommen wären. Unser Büro wird jedoch keine Ruhe geben, bis die Fälle geklärt sind … «
»Himmel«, murmelte Inger Johanne. »Aber was habt ihr für eine Theorie?«
»Wir haben viele Theorien.«
Die Geräusche aus der Küche waren lauter geworden. Quirle und Kochlöffel schlugen gegen Metallflächen, und der Lärm einer Spülmaschine war wirklich störend.
Inger Johanne schaute auf die Uhr. »Ich glaube, wir sollten die Tafel aufheben«, sagte sie und zögerte einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Gehst du noch immer gern zu Fuß, Karen?«
»Ich? Ich gehe und gehe!«
Inger Johanne winkte nach der Rechnung. Die lag schon bereit, und Karen riss sie an sich, ehe Inger Johanne den Kellner überhaupt bemerkt hatte.
»Ich bezahle.«
Inger Johanne brachte es nicht einmal über sich, zu protestieren. »Sollen wir zu einem Schlummertrunk zu mir nach Hause gehen?«, fragte sie, während Karen ihre Kreditkarte hervorzog. »Das dauert nur zwanzig
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