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Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Hof
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Gedichtzyklus
Nachtcafé
publiziert worden war.
    Benn befand sich gewissermaßen auf Abschiedstournee, »daich bald auf eine größere Auslandsreise gehe«, um sich eine »Meerfahrt und einige neue Himmel über das Gehirn spülen zu lassen«. 36 Knapp zwei Wochen bevor es losging, traf man sich zu einem letzten öffentlichen Auftritt: »Die feindlichen Brüder« war das literarische Kabarett betitelt; es sollte in Paul Cassirers Kunstsalon stattfinden. Die teilnehmenden »Brüder« waren Paul Boldt, der Benn wenige Tage zuvor eine Widmung in seinen bei Kurt Wolff erschienenen Gedichtband
Junge Pferde! Junge Pferde!
geschrieben hatte, Alfred Wolfenstein und Egmont Seyerlen.
    Seyerlen, der literarisch nur durch einen einzigen Roman hervorgetreten ist, spielte in Benns Leben eine besondere Rolle. Nach den Jahren des Kriegs lebte die Freundschaft der beiden »Womanizer«, die in unmittelbarer Nachbarschaft lebten, wieder auf. Als 1922 Benns
Gesammelte Schriften
erschienen, widmete er sie dem »treuen der Feindlichen Brüder«. 37 Seyerlen, bis 1924 international erfolgreicher mit Wolle und Baumwollgarnen handelnder Großhändler, »ein merkwürdiger Mann, hager, elegant, mit mächtiger Glatze und Nase«, 38 versorgte Benn mit interessanten Büchern und lieh ihm Geld, sie schrieben Urlaubsgrüße, verlebten Abende »in bekanntem Stil« 39 – »Alcohol oder coitus«. 40 Die Generalthemen der Kameraden, wie sie sich gerne nannten, bewegten sich ausnahmslos auf dem Gebiet der Kunst des Lebens: »Wenn wir über 45 sind, ist der Spass vorbei für die Männer unseres Geschlechts.« Ihr Kontakt riss über die Jahre nicht ab, gelegentlich besuchten sie einander, doch was sie einst bewegte, erstarrte im Laufe der Jahre in müder Nostalgie.
    Leo L. Matthias, dem letzten der »feindlichen Brüder«, verdanken wir Einzelheiten des Abends. Am Nachmittag vor der Veranstaltung trafen sie sich zu einer Vorbesprechung, wo man sich auf Reihenfolge, Inhalte und Dauer der Vorträge einigte. Doch als sich am nächsten Abend Paul Boldt, der als Erster lesen sollte, verspätete, kam es zum Streit.
     
Benn war dafür, Boldt zu streichen oder ihn am Schluß sprechen zu lassen. Aber die meisten waren dagegen, und das brachte Benn in Aufruhr. Mit militärisch kurzen Schritten lief er in dem kleinen Korridor, der sich hinter dem Podium hinzog, auf und ab und erklärte: »Also ich warte nicht. Ich gehe.« Aber er ging nicht, und als Seyerlen einen günstigen Augenblick benutzte, um zu sagen, daß die Mehrzahl der Besucher, die den Saal bis zum letzten Platz füllten, doch nur seinetwegen gekommen sei, um ihn, den Dichter der »Morgue«, zu sehen und zu hören, erregte dieser diplomatische Vorstoß nur seinen Ärger. … nach einigen weiteren Minuten erschien Boldt, außer Atem, und der Abend konnte beginnen.
Benn hatte seinen Vortragsstil schon damals gefunden. Er las einige Gedichte aus »Morgue« und einige ungedruckte in jenem sachlichen, fast unbeteiligten Ton, der manchmal den Eindruck hervorrief, als ob er den Leuten die Verse vor die Füße werfen wollte. Sein Sprachton war nicht frei von Protest und Polemik. Aber der Erfolg war nachhaltig und ehrlich … 41
     
    Tags darauf erschien eine Kritik im
Börsen-Courier
, die Benn konzedierte, eine Parodie vorgetragen zu haben, die von Zynismus triefte, im Übrigen habe man aber schon Besseres von ihm gelesen.

VI

»NUR AUS VERNICHTUNGEN
KOMMT DAS NEUE« 1
(1914 – 1917)
     
     
    »Über den Trümmern einer kranken Zeit
    hatte sich zusammengefunden die Bewegung
    und der Geist, ohne Zwischentritt.«
2
     
     

VII

»ICH SELBST BIN DER
MANN OHNE GEDÄCHTNIS« 1
(1917 – 1922)
     
     
    »›… schaut er sich selbst in stygischer Flut.‹
    Ovid, Verwandlungen (Narziß)«
2
     
     

»Don Juan aller Laster«
     
     
    Gottfried Benns Frau und die beiden Kinder verließen unmittelbar nach seiner Rückkehr Dresden und zogen in eine Sieben-Zimmer-»Familienwohnung« in die Passauer Straße 19 – jedoch ohne das Familienoberhaupt. Er führte das bereits in Brüssel praktizierte, sexuell unabhängige Leben weiter: »Denn eigentlich bin ich ein Abenteurer u. Rastaquouère u. ein Don Juan aller Laster u. trage jetzt die Maske des Papas oder eines Sanitätsrats!« 19 So dauerte es auch nicht lange, bis er die selbstbewusste Malerin – mit den »etwas vollen Gelenken u. Wadenansätzen« 20 – Dorothea Hahn kennenlernte, die etwa zwanzig Jahre jünger war als Edith und für etwas mehr als drei Jahre die

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