Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Hof
Vom Netzwerk:
meine Tripper spritzen, zwanzig Mark in der Tasche, keine Zahnschmerzen, keine Hühneraugen, der Rest ist schon Gemeinschaft, und der weiche ich aus. 59
     
    Seine fachärztliche Tätigkeit hatte Benn bisher ernährt. Die »
primären
Bekannten zu behandeln, ist mir das einzige Vergnügen, das mir die Praxis bereitet« 60 – gemeint waren Carl Sternheim, Klabund, George Grosz, der Vater Antonina Silbersteins, die sich später Vallentin nennen sollte, Else Lasker-Schüler, Egmont Seyerlen, um nur einige zu nennen.
    Eine seiner Primär-Patientinnen war auch die Schauspielerin und Schülerin von Max Reinhardt, Ernestine Costa. Über Jahre hinweg schrieben sie sich, interessierte sich Benn für Einzelheiten ihres (Liebes-)Lebens: »Was macht Ihr kleines Herz?? Haben Sie was gefunden?? Wohin denkt es?? Wohin lenkt es?? Was macht das Theater? Unangenehm? Schreiben Sie mir bitte bald wieder!« 61
    Die Liste der Frauen, für die Benn schwärmte, ist gigantisch. Arnolt Bronnen berichtete, dass er sich von den Werckshagen-Schwesternfür Hildegard stärker als für Traute interessierte. 62 Eta Harich-Schneider erinnerte sich daran, dass sie und ihre hübsche Schwester Paula, auf die es Benn abgesehen hatte, dem Schwerenöter mehrfach begegnet seien: »Mir gegenüber lobte Benn eine seiner Geliebten, weil sie immer gleich die Bettlaken auf Schadhaftigkeit hin musterte und, wenn nötig, ausbesserte.« 63 Der Schauspielerin Elsa Wagner berichtete er im Sommer 1925 von der »angenehm[en] u. elegant gegliedert[en]« Lola, die »überzittert von Zügen der lettischen Leibeigenschaft: ganz Sclavin u. dem Gebieter hingegeben [sei], nur behält Sie die Augen während der Liebe auf u. das mag ich nicht.«
     
Im Übrigen war Lola eine Jubiläums nummer: ich führe seit Kriegsausgang Protokoll, eine hübsche kleine Jubiläumszahl, keineswegs überschwenglich … Manchmal kommt mir der Gedanke, wenn so eine nette reizende u garnicht unangenehme Frau, der viele Männer nachjachtern, in mich hineinsehn könnte, ihr würde die Stachelbeere im Halse stecken bleiben. Vielleicht oder auch nicht? Vielleicht ist das Frönen garnicht unangenehm: der Waldschratt im Saccoanzug, Pan mit Houbigant, bitte trösten Sie mich, bin ich schlecht? 64
     
    An Ernestine Costa dachte er »wie an ein kleines rotes Rosenblatt, das ich zwischen den Lippen trug u. auf dem ich ein Balalaikaliedchen summte. Sind Sie darüber böse?« – Nein, er war nicht böse, nur promisk, eine Eigenschaft, die er wie sein dichterischer Vorfahr Villon oder sein Freund Klabund nicht nur lobte, sondern auch ausgiebig praktizierte. »Was machen die Affären?«, wollte er wissen und plauderte selbst: »Neulich war ich einen Abend bei Frl. Weigel.« 65
     
    Bertolt Brecht, der Helene Weigel seit 1923 kannte und seit letztem Jahr der Vater ihres gemeinsamen Kindes Stephan war, und Benn sind sich nur ganz selten begegnet und in den letzten 25Jahren ihres beinah gleichzeitig endenden Lebens wohl gar nicht mehr. 66 Dabei gab es Parallelen genug: Beide lebten in Berlin, Benn seit 1904 fast immer im Westen, der aus Augsburg stammende Brecht von 1924 bis 1933 und seit seiner Rückkehr aus dem Exil 1949 im Ostteil der Stadt. Benn war Arzt, Brecht hatte Medizin studiert, allerdings nicht sehr lange. Beider Mütter starben qualvoll an Brustkrebs, als die Söhne kaum älter als zwanzig Jahre alt waren. Bis heute gelten sie als misogyn, egoman und politisch verdächtig. Vor allem aber waren diese beiden Antipoden der deutschen Literaturgeschichte verbunden in ihrer Ablehnung des hohlen Pathos bürgerlich-romantischer Kunstideale und einem bereits früh ausgeprägten Hang zum Katastrophalen oder, produktiv gewendet, zur Radikalisierung.
    In ihren expressionistischen Anfängen attackierten beide den Zivilisationsmenschen der Großstadt und die Unmenschlichkeit der dahinterstehenden Institutionen. Bei allen Divergenzen der ästhetischen Stoßrichtung ihrer Lyrik – »Lyrik ist niemals bloßer Ausdruck« 67 (Brecht), »Das Wort des Lyrikers ist Existenz an sich« 68 (Benn) – eint sie der ästhetische Wille, die fundamentale Frage nach dem Mensch(lich)en formal mit der literarischen Kategorie des Fragmentarischen und dem poetischen Verfahren der Montage zu verknüpfen.
    Längst ist klar, dass es bei den Klassifizierungen, die Benn als »Ästhetisierer der Politik« und Brecht als »Politisierer der Kunst« einordnen, nicht um die Unterscheidung bürgerlicher und antibürgerlicher Kunst geht, sondern

Weitere Kostenlose Bücher