Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
um unterschiedliche Perspektiven des historischen Phänomens der Moderne, die nichts anderes sind als »zwei Seiten
einer
Münze«. 69
Das wenige im Werk Überlieferte, das sie übereinander sagten, ist eindeutig: Als am 27. 2. 1926 in der
Berliner Illustrierten
Brecht in der Rubrik »Köpfe der jungen Generation« genannt wurde, bemerkte dieser: »Burri, Benn, Bronnen stehen an der Grenze.« Seine
Hauspostille
(1927) steht in Benns Nachlassbibliothek mit der Widmung: »Herzlich Brecht«. Soeben waren Benns
Gesammelte Gedichte
erschienen, seine Akzeptanz in den Feuilletons gestiegen. Bis in die späten zwanziger Jahre respektierte man die künstlerische Leistung des anderen. Noch im September 1929 setzte sich Benn in seiner Eigenschaft als Korrespondent der Pariser Literaturzeitschrift
Bifur
– wenn auch vergeblich – für Brecht ein:
Ich habe also Herrn Brecht gebeten, mir den Lindbergh-Flug zu schicken, er hat es getan, ich habe es mir durchgelesen und finde es recht nett … Es ist vielleicht besonders geeignet, da es ja zum Schluss in Paris Bourget spielt. 70
Später war Benns Haltung, bei aller Achtung gegenüber Brechts Lyrik, zunehmend bestimmt von Rivalität, Missgunst und Neid. »Aber das Unaufhörliche … will nicht im Wohlstand leben, wo es angenehm ist …«, 71 schrieb er in der Einleitung zu Paul Hindemiths Oratorium
Das Unaufhörliche
(1931). Mit diesem Zitat aus der
Ballade vom angenehmen Leben (Dreigroschenoper)
und einer Anspielung auf die
Mahagonny -Oper
in Benns Rundfunkrede
Die neue literarische Saison
(1931) erreichte eine Polemik ihren Höhepunkt, die sich daraus ergeben haben mag, dass Bertolt Brecht Benns direkter Vorgänger als Librettist Hindemiths war. Danach wurden der Ton noch rauher und die Urteile apodiktischer: »Seine Lyrik – ja. Aber seine theoretische Fundierung – nein.« 72 Nach Benns Rundfunkrede
Der neue Staat und die Intellektuellen
(1933) notierte Brecht: »Von Beruf Arzt, veröffentlichte er einige Gedichte über die Qualen der Gebärenden und den Weg chirurgischer Messer durch Menschenleiber. Jetzt bekannte er sich emphatisch zum Dritten Reich.« 73
Nach dem Krieg schienen die Fronten geklärt. Beide wurden Repräsentanten der politischen Systeme und ihrer Akademien. Im Juli 1950 kam es zum letzten Kontakt. Benn, der für die Lyrikanthologie
Geliebte Verse
als eines seiner zehn Lieblingsgedichte Brechts
Terzinen über die Liebe
74 nannte, rief Helene Weigel anund bat sie um die Abdruckgenehmigung und den Text des Gedichtes. Das Telefonat endete unbefriedigend: denn »sie hat meiner Bitte nicht entsprochen«. 75 Wenige Tage später schrieb sie jedoch: »Lieber Gottfried Benn, hier ist das besprochene Gedicht; Brecht ist einverstanden. Ich soll einen Gruss bestellen.« 76 Im Februar 1956 schickte Brecht mit einem Gedichtentwurf einen allerletzten »Gruß« an den Kollegen:
beim anhören von versen
des todessüchtigen benn
habe ich auf arbeitergesichten einen ausdruck gesehen
der nicht dem versbau galt und kostbarer war
als das lächeln der mona lisa. 77
Mit dem Erscheinen des Gedichtbandes
Spaltung
im November 1925 hatte Benn nicht nur die Zusammenfassung der »unbesoldeten Arbeit des Geistes«, seiner »Aktion[en] am Sandsack« 78 der letzten zwei Jahre abgeliefert, die ihren Ausdruck in der achtzeiligen (vornehmlich kreuzgereimten) Strophe mit wechselnder Hebungszahl fand, wie sie z. B. das evangelische Kirchenlied kennt; sondern er hat auch die denkbar kürzeste Formel dafür gefunden, was ihm im Weg stand und ihn hemmte, was ihn aber auch im Innersten provozierte und antrieb, nämlich die »Gespaltenheit«, die er in der Rönne-Figur zwar literarisch ausgereizt hatte, die aber immer noch existenziell, im Selbst-Erleben übermächtig und unversöhnlich war. Der späte Benn wird es weniger martialisch ausdrücken: »Teils-teils«. 79 Lassen sich die
Teile
wieder zusammenführen? Lässt sich die
Spaltung
überwinden? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, aber es gibt ein nicht endendes Programm, des Dichters Auftrag, es gibt die
Kunst
:
Es mußte etwas Drittes eintreten, eine Vermischung, und der strebte er unaufhörlich zu, etwas, was gleichzeitig eine Aufhebung war und eine Verschmelzung, aber das gab es nur für Momente, in Fallkrisen, von Durchbruchscharakter, und das war immer der Vernichtung nahe. 80
Fast ein ganzes Jahrzehnt lang wird die achtzeilige Strophe das Maß von Benns Lyrik sein: Für die Gedichte
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