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Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Hof
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und widmete ihr ein »königliches« Gedicht: »… Substanz / Aller Schöpfungskrisen / Aller Taumel des Mann’s –«. 45 Am 8. Januar 1925 traf er Fräulein Schiratzki zum Abendbrot, nachdem er ihr zuvor vier Gedichte, darunter auch ebenjenes, zur Veröffentlichung angeboten hatte, um noch am selben Abend seinem Freund egmont Seyerlen sein Liebesleid zu klagen: »Meine Affäre ist zu Ende. Ich muss tauchen u. vergessen. Wie habe ich sie geliebt!« 46 Ob er nun die »merkwürdige« und »pathologische« Schauspielerin meinte, ob die mit den kleinen Fingernägeln oder doch die Fotografin – man weiß es nicht.
    Im März unterschrieb Gottfried Benn als »Arzt und Naturforscher« eine von dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld initiierte »Eingabe gegen das Unrecht des § 175 R.Str.G. B. mit den Unterschriften vieler hervorragender Deutscher den gesetzgebenden Körperschaften des Deutschen Reiches überreicht vom Wissenschaftlich-humanitären Komitee, E. V.« 47
    Dann fuhr er durch »Nordfrankreich, flaches Land, es könnte Ostfriesland oder Jütland sein; Tiefebene der Seine, nirgends durch höhere Gebirge gegürtet«, 48 nach Paris. »Je m’amuse! Oh-la-la!«, 49 und: »Kennen Sie Paris? Wenn nein − fahren Sie auf Ihrer nächsten Reise hierher. Es ist fabelhaft, die schönste Stadt der Welt.« 50 Doch nicht die Amüsierlust war es, die ihn in die Stadt der Liebe geführt hatte, sondern eine Auftragsarbeit, die er allem Anschein nach noch während der Reise erledigte. 51 So erschien bereits im Juni in einem den Hauptstädten der Welt gewidmeten Heft der Monatsschrift
Faust
ein Reisebericht Benns. 52 Soweit wir wissen, fuhr Benn allein, im Gepäck L. Teubners Reiseführer
Eine Woche in Paris
(1907). Beinah alles in Paris schien ihm groß und großartig.
     
Es ist der Stapel der Welt und die Messe der Nationen; es hat in seinen endlosen Komplexen Schätze angehäuft, die sich mit nichts vergleichen lassen; es hat in seinen angeschwärzten Straßen einen Atem der Welt, den ich berauschender fand als in New York. … niemand kann bestreiten, daß Berlin eine monumentale Geschäftsstadt ist, aber Paris ist das Genie einer Nation und entfaltet es in jeder Stunde. 53
     
    Immerhin mehrte die Reise seinen Ruhm: Am 16. Mai war im
Berliner Tageblatt
zu lesen, dass Philippe Soupault, ein Freund von Eugène Jolas, der Benns Prosatexte in der in Paris erscheinenden Zeitschrift
transition
erscheinen lassen sollte, am Abend zuvor in einem Vortrag in der Sorbonne im Rahmen einer vom internationalen Studentenclub in Paris organisierten Versammlung über moderne deutsche Literatur Stefan George, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, Franz Werfel und Fritz v. Unruh als Europas bedeutendste Lyriker nannte. 54 Der dergestalt geschmeichelte Benn besorgte sich die Zeitung gleich mehrmals, schnitt den Artikel aus und schickte ihn voller Stolz an Fräulein Schiratzki, um seine Mitarbeit beim
Querschnitt
im rechten Lichterscheinen zu lassen, und am selben Tag an Carl Werckshagen, der Benn in einer Besprechung der
Gesammelten Schriften
bescheinigt hatte, »der späte Mensch, das letzte Ich [zu sein], die Seele des abendländischen Menschen in Auflösung und Untergang, die Auflösung schmeckend, den Untergang lebend«. 55
    Carl Werckshagen, geboren 1903 in Berlin, Student der Philosophie, Geschichte und Germanistik, war für Benn kein ganz Unbekannter. Die Schwestern Hilde und Traute kannte er schon seit 1918. 56 Benn und der junge Schriftsteller, den es zum Theater trieb, waren sich auf Anhieb sympathisch, und es entwickelte sich eine dauerhafte Freundschaft. Bereits nach wenigen Briefen und Begegnungen nannte ihn Benn »mein lieber Charly« und wurde fortan zum kritischen Begleiter von Werckshagens schriftstellerischen Versuchen.

»Zwei Seiten einer Münze«
57
     
     
    Im Mai 1926, gerade vierzig geworden, stellte Gottfried Benn in der
Weltbühne
fest, dass er summa summarum als Schriftsteller durch Bücher, Nachdrucke, Anthologiebeiträge, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, im Original oder übersetzt, 975 Mark verdient habe. Wir müssen es nicht nachrechnen und können es nicht – schon gar nicht wegen der mittlerweile überstandenen Inflationsturbulenzen. Zwar wird sich die bürgerlich linke Leserschaft der kleinen roten Hefte der
Weltbühne
über den weitgehend statistischen Beitrag amüsiert haben, doch die Pointe der Abrechnung, seines »Kalküls über Dichten und Denken«, 58 war ernst gemeint:
     
Nein, ich will weiter

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