Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
1928 Sekretär der Sektion für Dichtkunst in der Akademie der Künste geworden war. Er verhandelte mit Alfred Döblin – der ebenfalls Anfang 1928 Akademiemitglied geworden war, während Benn lediglich auf der Vorschlagsliste Georg Kaisers aufgetaucht war – über einen Teilabdruck von
Berlin Alexanderplatz
und mit Bert Brecht wegen seines »Radio-Hörspiels«
Der Flug der Lindberghs
: »Einen Aufsatz von [Albert] Einsteinkann ich Ihnen leider nicht verschaffen. Ich habe mit Herrn Kayser [Einsteins Schwiegersohn] gesprochen, er meint, es sei aussichtslos, den grossen Mann darum zu bitten.« 48
Je enger das Geflecht der Kontakte im Literaturbetrieb wurde, desto mehr wuchs das Selbstbewusstsein Benns.
Gestern Abend, per Zufall, traf ich Döblin u Frau im Café am Zoo. Begrüsste ihn u. wir verpassten uns ¾ Stunde lang eine fulminante Unterhaltung, über die ich Ihnen gelegentlich erzählen werde. … Ja, wir haben uns neulich gut verstanden u. Sie hatten so schönen Anzug an u. Schlips um u. sahen so vornehm u. gestillt aus. 49
Benn wurde zwar im Januar 1928 wieder nicht in die Akademie der Künste, doch zumindest in die 1924 von Ludwig Fulda ins Leben gerufene deutsche Abteilung des »P.E.N. Club aufgenommen. Dolle Sache!« 50 In diesen Tagen nahm er eine Abendeinladung Alfred Flechtheims an, 51 »dem durch die Äonen strahlenden Gründer des ›Querschnitt‹«, 52 und man sah ihn zusammen mit Theodor Däubler, dem derzeitigen Präsidenten der deutschen Sektion des Pen-Clubs, dem Theaterregisseur Erwin Piscator, dem Architekten Erich Mendelsohn und einem Schwergewichtsboxer namens Max Schmeling in Flechtheims Galerie am Lützowufer bei der Eröffnung einer Ausstellung von Bildern Fernand Légers.
Aber in noch einer Hinsicht begann sich Benn zu öffnen, seine Ansichten mitzuteilen und damit an der Art von Schriftstellerei teilzuhaben, die »seit der Aufklärung eine sichtbare Stellung in der Öffentlichkeit einnimmt«. 53 Er veröffentlichte in Tageszeitungen, und seine Beiträge waren, was man von seinen künstlerischen Texten bislang nicht sagen konnte, durchaus verständlich. Am 22. Februar 1928 konnte man im
1. Beiblatt des 8 Uhr Abendblatts der Nationalzeitung
den »Bericht eines Augenzeugen über die Hinrichtung der englischen Krankenschwester« Edith Cavell lesen, mit dem der »ehemalige Oberarzt am GouvernementBrüssel« auf den englischen Stummfilm
Dawn
von Herbert Wilcox reagierte, in dem die seit der Erschießung von Edith Cavell sich haltende Legende, sie sei »durch einen Fangschuß am Boden getötet worden«, 54 verbreitet wurde. Etwa gleichzeitig verfasste Benn eine Rezension der bei seinem Verlegerfreund Erich Reiss erschienenen Übersetzung des Romans von Victor Margueritte
Ton corps est à toi
, in der er mit allem Nachdruck auf die unmenschlichen Folgen der aus dem § 218 sich ergebenden Abtreibungspraxis hinwies.
Mit der
Neuen Rundschau
, »der immer noch bedeutendsten und anerkanntesten deutschen Monatsschrift, in der jeder Schriftsteller von uns den grössten Ehrgeiz hat, gedruckt zu werden«, 55 stand Benn seit spätestens April 1928 in intensivem Kontakt: »Ich arbeite z. Z. viel«, schrieb er an Gertrud Zenzes. »Einen Aufsatz für die neue ›Neue Rundschau‹ etwa über das Thema: ›die Lage des Ich‹.« 56
Im beginnenden Frühjahr 1928 hatte Benn mit
Urgesicht
eine Arbeit beendet, die ein Jahr später beinah zeitgleich in drei Sprachen – Yvan Goll übersetzte für
Bifur
(
Elément premier
) und Malcolm Cambell für
transition
(
Primal Vision
)
–
in drei renommierten Literaturzeitschriften in Berlin und Paris erscheinen würde.
Eine Klarheit ohnegleichen kam über mich, als ich die Höhe des Lebens überschritten sah. … Eine Leichtigkeit fiel mir auf, die mich bewegte. … Fern und gelöst die Jahre der Jugend, die Züge des Stürmens, die Krankheit des großen Flugs. 57
In
Urgesicht
macht sich metaphysischer Optimismus breit. Eine Last, die bis dahin auf Benn gelegen hatte, scheint genommen, ein Weg gefunden, die entscheidenden Fragestellungen mit den Antworten, wie sie nur die Kunst geben kann, ganz und gar in die Immanenz zu überführen, denn
nach Jahren des Kampfes um Erkenntnis und die letzten Dinge hatte ich begriffen, daß es diese letzten Dinge wohl nicht gibt. … Die Unität des Lebens, so bildete sich in mir die Idee, war es, die ich hier gegen einen Angriff zu verteidigen sah. … Ich gedachte der sonderbaren Sätze, daß man es aufgeben
Weitere Kostenlose Bücher