Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
solle, nach jenen letzten Worten zu suchen, deren Schall, wenn sie nur ausgesprochen würden, Himmel und Erde ins Wanken brächten. … Das Leben war ein tödliches Gesetz und ein unbekanntes; der Mann, heute wie einst, vermochte nicht mehr, als das Seine ohne Tränen hinzunehmen. … Das Leben wollte sich erhalten, aber das Leben wollte auch untergehn –. 58
Offensichtlich war es Benn gelungen, mit
Urgesicht
seine eigene schriftstellerische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Erleichtert konstatierte er, dass »der Kosmos als Ganzes im Niedergang begriffen sei«. 59 Um nichts weniger ging es. So lautete die Diagnose. Daran gab es nichts zu rütteln. So war die Lage, und sie verlangte nach Ausdruck – künstlerischem Ausdruck, den Benn in den kommenden Jahren in die literarische Gattung der Essayistik verlegen wird.
Weihnachten 1928 heiratete Benns Bruder Ernst-Viktor, der Konsistorialrat der Kirchenprovinz Ostpreußen geworden war: »Ich muss nach Königsberg i Pr., meinen jüngsten Bruder verheiraten – kalt u. überflüssig!« 60 Mit großer Wahrscheinlichkeit war der große Bruder Trauzeuge, denn er revanchierte sich zehn Jahre später, als er Ernst-Viktor – der mittlerweile Oberkirchenrat in der Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin war und nach drei Jahren Mitgliedschaft in der NSDAP wieder ausgetreten war – zu seinem Trauzeugen bei der Eheschließung mit Herta von Wedemeyer machte.
»ICH NEHME SEHR STARK
ABSCHIED VON MIR« 1
(1933 – 1934)
»wenn der, wie du, sich irrte,
ist nie Verzeihn«
2
XI
»
R AUS
AUS ALLEM« 1
(1935 – 1943)
»Die Welt als Wille zur Macht? Sehr fragwürdig!
Aber der Mensch als Wille zum Geist – bestimmt!«
2
»Wenn man Durst hat«
25
In der »Juliruhe« 26 des ersten heißen Sommers, den er, da er keinen Urlaub nehmen konnte, in der »köstliche Gelegenheit zu Doppelleben und Dämonenzauber« 27 bietenden Stadt verbrachte, trank Gottfried Benn jede Menge Bier. An Pfingsten hatte er für diesen Zweck die Stadthallenterrassen entdeckt: »links wein-, r. Bier Terrasse, in der Mitte eine Kapelle, wenig Menschen, vor einem ein bisher völlig unveränderliches Gemälde: ein Bassin mit 2 Schwänen, eingefasst von Alleen u. Blumenbeeten«. 28 Eine Zeitlang fuhr er fast jeden Abend dorthin. Benn litt unter der Hitze dieses Sommers, hatte mit Migräne und Schweißausbrüchen zu kämpfen, und im Büro gab es mehr Arbeit, als ihm lieb war: »Ich glaube wahrhaftig, ich muß das Saufen lassen. Werde mal ein paar Tage mich völlig trockenlegen, austrocknen, entwässern. … Ich verstehe meinen Kadaver nicht mehr.« 29 In jenen Wochen entstand die erst kürzlich aufgetauchte
Bierode
:
Bierode (für Mor).
O Berliner Kindl! Edles Bräu,
vergleichbar den Hannoverschen Besonderheiten:
Härke, Gilde, Lindener Spezial,
Wülfeler und das Ricklinger Kaiserbier!
Juli! Frieden!
O Lebensmittag, feierliche Zeit,
der Sommer steht und
sieht den Rosen zu,
die Gerste reift, schon wächst aus Spelz u Korn
die Grundlage des Gär- u. Sudprocesses!
Von Bier zu Bier –
Erinnerung spinnt seine Schleier,
die Netze webend
vom kaltbeschlagenen Becher:
Ureisvisionen, Auskühlung tiefer Art
dem Blick u. Griff vorgaukelnd
zur schaumgekrönten Tulpe!
Vor-Warmblütererde –!
Als alles ungetrennt
mit Meer u. Land
Frost u Erwärmung teilte
angepasst fraglos dessen entzweit geregelten Temperaturen
bis zu dieser durstbetäubten, hitzigen, ewig biergierigen Eigenbluterde!
Welch gewaltiger Schritt der Natur
Bis zum Gerstensaft!
Autochthone Durstregelung,
Flüssigkeitszufuhr
halb aus Trieb u halb aus Lust,
Erhabenes Erhobensein
über die Vorstufen
von Dahindämmern u. Arterhaltung!
Aufstützt sich die Natur erkennt sich etwas näher,
ruft sich an:
schon rundet sich die Kehle
beweglich zu süssem Menschenlaut,
schon tritt sich gegenüber
die grosse Doppelwoge:
Natur u Geist,
u spaltet sich u flutet wieder zu
u atmet sich Versöhnung an, ja Juli, Frieden feierliche Zeit
du edles Bräu,
vergleichbar den Hannoverschen Besonderheiten.
Härke, Gilde, Lindener Spezial,
von Bier zu Bier
die grosse Linie der Menschwerdung
Hallelujah, Pröstchen! 30
Erst seit kurzem hatte Benn seine alte Schreibmaschine wieder, ohne die an einen geordneten Schreibprozess überhaupt nicht zu denken gewesen wäre. Aber zu mehr und zu Tieferem als diesem Gelegenheitsgedicht wollte er sich
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