Goya oder der arge Weg der Erkenntnis - Roman
sinnlosen. Carajo! fluchte er im stillen.
Dabei lockte es ihn, Lucía die Caprichos zu zeigen. Immer, trotz seiner feindseligen Vorsicht, hatte sie ihn auf unklare Art angezogen. Es war Gemeinschaft zwischen ihnen, sie hatte, und das war ihre Kraft, das Unten mit in die Höhe gebracht wie er. Er war sicher, daß sie die Caprichos verstehen würde, viel tiefer als jede andere Frau, die er kannte. Ja, ihm war, als rächte er sich an Cayetana, wenn er Lucía die Caprichos zeigte.
»Bitte, Doña Lucía«, sagte er trocken, »bestellen Sie Don Diego meine Grüße, und geben Sie mir die Ehre, mich mit ihm am Donnerstag nachmittag um drei Uhr in meinem Atelier an der Calle de San Bernardino zu besuchen.«
Der Abate, als er mit Lucía kam, schien wenig verändert. Er trug einen schlichten, sehr eleganten Anzug der letzten französischen Mode und bemühte sich, leicht zu scheinen, überlegen, geistreich, etwas zynisch, wie man’s von ihm gewohntwar. Doch Goya merkte, welche Anstrengung ihn das kostete, und war unsicher. Er beeilte sich, das einleitende Gespräch abzukürzen und die Radierungen aus der Truhe zu holen.
Doña Lucia und der Abate beschauten die Caprichos. Es kam, wie es Goya vorhergesehen hatte. Lucías Gesicht verlor seine Maskenhaftigkeit, eine Art fanatischer Zustimmung malte sich darauf. Mit ihrer ganzen Wildheit sog sie das heftige Leben ein, das von den Blättern ausging, und strahlte es zurück.
Der Abate zeigte sich vor der ersten Gruppe der Radierungen, vor den »wirklichen«, als der verständige Kunstkenner, der er war, und tat kluge Äußerungen übers Technische. Dann aber, als die Blätter immer kühner und phantastischer wurden, verstummte er, und langsam nahm auch sein Gesicht jene brünstige Versunkenheit an, die Lucías Miene zeigte.
Nun waren sie beide gebeugt über die Radierung mit dem aneinandergebundenen Paar, in dessen Häupter sich die Eule Verhängnis einkrallt – »Bindet uns denn keiner los?« hatte Goya die Zeichnung genannt –, und voll tiefer Befriedigung nahm Francisco wahr, mit welcher Gier Lucía und der Abate auf dieses Blatt und auf ihr Schicksal starrten. Und es war von da an, während sie die übrigen Caprichos betrachteten, zwischen den dreien eine Verbundenheit über alle Worte hinaus.
Endlich, seine Freude hinter Barschheit verbergend, sagte Goya: »So, nun ist es genug« und machte sich daran, die Zeichnungen zusammenzupacken. Aber: »Nein, nein!« rief kindlich unbeherrscht der Abate, und auch Lucía dachte gar nicht daran, das Blatt wegzulegen, das sie in der Hand hielt. »Ich glaubte«, sagte sie, »ich hätte das Gesindel durchschaut. Aber erst Sie machen einen richtig sehen, wie schauerlich Dummheit und Gemeinheit ineinandergehen.« Sie schüttelte sich. »Mierda!« sagte sie, und es war seltsam, das wüste Fluchwort aus den langen, edelgeschwungenen Lippen der Dame herauskommen zu sehen.
Der Abate, auf die Paginierung weisend, sagte: »Das sollen sechsundsiebzig Zeichnungen sein? Es sind tausend! Es ist die ganze Welt! Es ist die ganze spanische Größe und das ganze spanische Elend!«
Nun aber packte Francisco die Radierungen endgültig fort, und sie versanken in der Truhe.
Der Abate starrte auf die Truhe, wilden, verlorenen Blickes. Goya erkannte, was in ihm vorging. Hatte er ihn doch knien sehen damals vor dem Tribunal in Tarragona. Diese Caprichos waren die Rache aller Getretenen, die Rache auch des Abate; auch er schrie in den Caprichos den frechen Mächtigen seinen Haß und seine Verachtung ins Gesicht.
Und nun wirklich sagte, leise, langsam und heftig, der Abate: »Es ist unfaßbar, daß das in der Welt ist und doch nicht in der Welt.«
Auf Goya aber sprang über des Abate heißes Verlangen, daß aller Welt sichtbar werde das nackte Gesicht der Verruchten, derer, die heute Spanien beherrschten, so wie er’s gespiegelt hatte in den Blättern hier in dieser Truhe. Stärker als je spürte er die Versuchung, die Caprichos in die Welt zu schicken. »Ich werde sie in die Welt schicken«, beschloß er, heiser.
Da aber riß sich der Abate aus seiner Verlorenheit zurück in die Wirklichkeit dieses Ateliers und dieser Stadt Madrid. Und ganz leicht, im Konversationston, sagte er: »Sie scherzen natürlich, Don Francisco.«
Goya sah ihm aufmerksam ins Gesicht, und hinter der eleganten Maske erkannte er das Antlitz, ein Totengesicht. Ja, er war ein Toter, dieser Mann. Da ging er herum, heimlich, unerlaubt, ein Geächteter, in dem gleichen Madrid, wo er
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