Goya oder der arge Weg der Erkenntnis - Roman
Behälter waren da aus Gold, Silber, vergoldeter Bronze und edelstem Holz, viele von ihnen dickbesetzt mit Edelsteinen. Darin verwahrt wurden zehn vollkommen erhaltene Skelette von Heiligen und Märtyrern, 144 Schädel, 366 Arm- und Beinknochen, 1427 einzelne Finger und Zehen. Da gab es einen Arm des Heiligen Antonius, ein Bein der Heiligen Teresa, das Skelettlein eines der von Herodes gemordeten Säuglinge. Da waren ferner ein Teil des Strickes, mit dem Jesus Christus gebunden gewesen, zwei Dornen seiner Krone, ein Teil des essiggetränkten Schwammes, den ihm der Soldat gereicht hatte, und ein Holzteilchen des Kreuzes, an dem er gelitten hatte. Auch war da das tönerne Gefäß, dessen Wasser Jesus in Wein verwandelt hatte, des weiteren das Tintenfaß des Heiligen Agustín und schließlich ein Stein aus der Blase des Heiligen Vaters Pius des Fünften. Ein böses Gerücht wollte wissen, daß einmal ein Mönch, dessen Sinne der Teufel verwirrt hatte, viele der prunkenden Geräte ihres Inhalts entleert und auf einen heillosen Haufen zusammengeworfen habe, dergestalt, daß man nicht mehr habe unterscheiden können, welches der Arm des Isidro war, welches der der Verónica.
In einer besonderen Kapelle verwahrt wurde die stolzeste Reliquie des Escorial, die »Santa Forma«, eine Hostie, eine Oblate, in welcher sich die Gottheit auf bestürzende und erhebende Art manifestiert hatte. Ketzer, »zuinglianos«, hattensich dieser Hostie bemächtigt, sie auf den Boden geworfen, sie mit Füßen getreten. Die Hostie aber hatte zu bluten begonnen, deutlich waren Blutstreifen sichtbar geworden, die Gottheit hatte erwiesen, daß sie in der Oblate lebte. Das war in Holland geschehen; von einem dortigen Kloster war die Hostie nach Wien, später nach Prag gebracht worden zu Kaiser Rudolf dem Zweiten. Von diesem hatte sie der Weltherrscher Philipp erworben, er hatte einen hohen Preis dafür gezahlt, drei Städte in seinen Niederlanden und wichtige Handelskonzessionen. Jetzt also ruhte die »Santa Forma« im Escorial, und keines Ketzers Auge durfte sie schauen.
Das Zeremoniell des Hofes, ebenso streng und prächtig wie der Escorial, schrieb den Herrschern Spaniens vor, daß sie und welche genau festgelegte Zeitspanne in jedem ihrer Schlösser zu verbringen hatten. Im Escorial hatten sich der König und sein Hof 63 Tage aufzuhalten, die Daten waren festgelegt. Der Dritte Carlos, der Vater des jetzt regierenden Königs, war an dieser Regelung gestorben; gegen die Warnung seiner Ärzte war er trotz einer beginnenden Lungenentzündung zur vorgeschriebenen Zeit in den Escorial übersiedelt.
Den behaglichen Vierten Carlos bedrückte die finstere Großartigkeit des Schlosses. So richtete er sich für die neun Wochen, die er dort verbringen mußte, seine Appartements nach seinem eigenen freundlichen Geschmack ein, und während unten die Zimmer, in welchen der Zweite Philipp sein letztes Jahrzehnt verlebt hatte, streng und mönchisch kahl hersahen, wohnte oben der Vierte Carlos in komfortablen Räumen, zwischen fröhlichen Wandteppichen und Bildern, die spielende Kinder darstellten, schäkernde Schäferinnen, üppige, schwatzende Waschweiber.
Jede Woche einmal aber, wie der Brauch es befahl, ging auch dieser Monarch in die Kirche des Escorial, um seine toten Vorfahren zu besuchen. Durch den Patio de los Reyes ging er, wo graniten die Könige von Juda standen: David mit Harfe und Schwert, Salomo mit Büchern, Hesekias mit einem Mauerbrecher,Manasse mit Maßgerät, Josaphat mit einer Axt. Das waren die Werkzeuge, mit denen diese Könige den Tempel von Jerusalem gebaut hatten, und nun führte der Escorial die Tradition fort und war der christlichen Welt, was dem Volk des Alten Bundes der Tempel Salomonis gewesen war.
Vorbei an diesen Königen ging der Vierte Carlos. Vor ihm auf tat sich das Haupttor der Kirche, das nur geöffnet wurde für Personen königlichen Ranges, lebendige und tote. Unbehaglich, das Gesicht würdig und finster, schritt der massige König durch die stolze und kühne Harmonie des edlen Baues, und so stattlich er war, er wirkte zwerghaft in dem gewaltigen Raum unter der gigantischen Kuppel.
Zwischen Wänden und Bögen ausgesuchten Marmors stieg er hinab, zunächst in das Panteón de los Infantes, die Grabstätte der Prinzen, Prinzessinnen und jener königlichen Frauen, deren Kinder nicht auf den Thron gelangt waren. Dann, weiter hinunter, immer auf granitenen Stufen, ins Panteón de los Reyes. Da stand er in dem achteckigen
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