Grab im Wald
Wunde schmerzte. Mir dröhnte der Kopf. Ich wollte mich hinsetzen und weinen. Und ich wollte in Ruhe über das nachdenken, was ich gerade über meine Mutter und meine Schwester erfahren hatte.
»Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass Sie mitspielen.«
Ich drehte mich um. EJ Jenrette stand hinter mir.
»Ich versuche nur, meinen Sohn zu retten«, sagte er.
»Ihr Sohn hat ein Mädchen vergewaltigt.«
»Ich weiß.«
Ich blieb stehen. Er hatte einen braunen Aktendeckel in der Hand.
»Bitte setzen Sie sich einen Moment«, sagte er.
»Nein.«
»Denken Sie an Ihre Tochter. Ihre Cara. Stellen Sie sich vor, dass sie eines Tages erwachsen wird. Vielleicht trinkt sie zu viel auf einer Party. Vielleicht steigt sie danach noch ins Auto und
fährt jemanden an. Vielleicht stirbt das Unfallopfer sogar. Stellen Sie sich das vor. Sie macht einen Fehler.«
»Eine Vergewaltigung ist kein Fehler.«
»Doch, das ist es. Sie wissen genau, dass er es nie wieder tun wird. Er hat Mist gebaut. Er hat sich für unbesiegbar gehalten. Den Zahn haben Sie ihm gezogen.«
»Wir brauchen das Ganze nicht noch mal durchzukauen«, sagte ich.
»Ich weiß. Aber jeder hat irgendwelche Geheimnisse. Jeder macht Fehler, jeder hat sich irgendwann irgendwas zuschulden kommen lassen. Manche Menschen kriegen es einfach besser hin, ihre Schuld zu vergraben.«
Ich sagte nichts.
»Ihr Kind habe ich nicht behelligt«, sagte Jenrette. »Ich habe mich ganz auf Sie und Ihre Vergangenheit konzentriert. Ihr Schwager ist da dann auch mit reingeraten. Aber von Ihrer Tochter habe ich mich ferngehalten. Das war die Grenze, die ich mir gesetzt hatte.«
»Sie sind ein wahrer Engel«, sagte ich. »Und was haben Sie gegen Richter Pierce in der Hand?«
»Das ist nicht wichtig.«
Er hatte Recht. Das brauchte ich wirklich nicht zu wissen.
»Was kann ich tun, um meinem Sohn zu helfen, Mr Copeland?«
»Dafür ist es zu spät«, sagte ich.
»Glauben Sie das wirklich? Glauben Sie, dass sein Leben zu Ende ist?«
»Ihr Sohn wird höchstens zu einer Gefängnisstrafe von fünf bis sechs Jahren verurteilt«, sagte ich. »Wie er diese Zeit im Gefängnis verbringt und was er hinterher macht, wenn er wieder rauskommt, wird darüber entscheiden, wie sein Leben verläuft.«
EJ Jenrette hob den Aktendeckel. »Ich weiß nicht, was ich damit machen soll.«
Ich sagte nichts.
»Man tut, was man kann, um seine Kinder zu schützen. Vielleicht ist das meine Entschuldigung. Vielleicht war es auch die Ihres Vaters.«
»Meines Vaters?«
»Ihr Vater war beim KGB. Wussten Sie das?«
»Dafür hab ich keine Zeit.«
»Das ist ein Auszug aus seiner Akte. Meine Leute haben es ins Englische übersetzt.«
»Dafür habe ich keine Verwendung.«
»Sie sollten sich das schon mal angucken, Mr Copeland.« Er hielt mir die Akte entgegen. Ich nahm sie nicht. »Damit Sie sehen, wie weit ein Vater gehen kann, wenn er seinen Kindern ein besseres Leben ermöglichen will. Vielleicht verstehen Sie mich dann etwas besser.«
»Ich will Sie nicht besser verstehen.«
EJ Jenrette streckte mir die Akte einfach weiter entgegen. Schließlich nahm ich sie. Er drehte sich wortlos um und ließ mich dort stehen.
Ich ging zurück in mein Büro und schloss die Tür hinter mir. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und schlug die Akte auf. Ich las die erste Seite, fand aber nichts Überraschendes. Nachdem ich gedacht hatte, schlimmer könnte es nicht mehr werden, hatte ich auf der zweiten Seite dann das Gefühl, die Worte würden mir bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust reißen.
Muse kam herein, ohne zu klopfen.
»Das Skelett, das Barrett beim Ferienlager im Wald gefunden hat«, sagte sie, »ist nicht von Ihrer Schwester.«
Ich bekam kein Wort heraus.
»Also, diese Gerichtsmedizinerin hat noch einen Knochen gefunden. Das Zungenbein. Das ist irgendwo im Hals, oder so. Und es ist hufeisenförmig. Na ja, das war jedenfalls in der Mitte
zerbrochen. Das bedeutet, dass das Opfer vermutlich von Hand erwürgt wurde. Aber bei jungen Menschen ist das Zungenbein nicht spröde, sondern ziemlich elastisch, eher wie Knorpel. Also hat O’Neill mit dem Röntgengerät noch ein paar Verknöcherungstests gemacht. Um es kurz zu machen, es ist viel wahrscheinlicher, dass es sich um das Skelett einer Vierzig- oder Fünfzigjährigen handelt, als um das von einem Mädchen in Camilles Alter.«
Ich sagte nichts. Ich starrte nur auf das Papier vor mir.
»Haben Sie das nicht verstanden? Es ist nicht Ihre
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