Grab im Wald
bezeichnete ihn als Exhippie, aber eigentlich bedeutete das ja, dass er irgendwann aufgehört hatte, Hippie zu sein. Lange nachdem alle anderen sich von der Flower-Power verabschiedet, ihre
Batik-Hemden und Perlenketten in Kisten auf den Dachboden gepackt, sich die Haare schneiden und rasieren lassen hatten, war Ira der Sache immer noch treu geblieben.
In Lucys wundervoller Kindheit hatte Ira nie die Stimme gegen sie erhoben. Er hatte ihr praktisch keine Vorschriften gemacht, keine Grenzen gesetzt, sondern gewollt, dass seine Tochter in allen Bereichen ihre eigenen Erfahrungen machte, selbst in denen, in denen das eher unangemessen erschien. Komischerweise war sein einziges Kind Lucy Silverstein durch diesen Mangel an Kontrolle nach heutigen Maßstäben eher etwas prüde geworden.
»Ich bin so froh, dass du hier bist …«, sagte Ira und kam mit wackeligen Schritten auf sie zu.
Sie trat ins Zimmer und umarmte ihn. Der Geruch von Schweiß und Alter stieg ihr in die Nase. Der Hanf-Poncho musste gewaschen werden.
»Wie geht’s dir, Ira?«
»Prima. Ist mir nie besser gegangen.«
Er öffnete ein Röhrchen und nahm eine Vitamintablette. Das machte er oft. Trotz seiner antikapitalistischen Haltung hatte ihr Vater in den frühen Siebzigern ein kleines Vermögen mit Vitaminpräparaten gemacht. Durch den Verkauf der Firma war er dann zu dem Geld für das Grundstück an der Grenze zwischen New Jersey und Pennsylvania gekommen. Er hatte dort eine Kommune gegründet, in der sie eine Zeit lang gelebt hatte. Aber diese Zeiten waren schnell vorbei. Also hatte er sie zu einem Ferienlager umgebaut.
»Und wie läuft’s so?«, fragte sie.
»Es ist mir noch nie so gut gegangen, Luce.«
Und dann fing er an zu weinen. Sie setzten sich, und Lucy nahm seine Hand. Er weinte, dann lachte er, dann weinte er wieder. Er sagte ihr ein ums andere Mal, wie sehr er sie liebte.
»Du bist mein Leben, Luce«, sagte er. »Wenn ich dich sehe … Es ist alles so, wie es sein soll. Weißt du, was ich meine?«
»Ich liebe dich auch, Ira.«
»Siehst du? Das meine ich. Ich bin der reichste Mann der Welt.«
Dann weinte er wieder.
Sie hatte nicht viel Zeit. Sie musste zurück ins Büro und gucken, was Lonnie herausbekommen hatte. Ira lehnte den Kopf an ihre Schulter. Der Geruch und die Schuppen machten ihr zu schaffen. Als eine Schwester ins Zimmer kam, nutzte Lucy die Störung und löste sich von ihm. Sie hasste sich dafür.
»Ich komm nächste Woche wieder, okay?«
Ira nickte. Als sie ging, lächelte er.
Im Flur wartete eine Schwester auf sie – ihren Namen hatte Lucy vergessen. »Wie ging es ihm die letzten Tage?«, fragte Lucy.
Das war eigentlich eher eine rhetorische Frage. Hier ging es allen Patienten schlecht, aber das wollten die Familien nicht hören. Normalerweise antwortete die Schwester daher: »Ach, den Umständen entsprechend ziemlich gut«, aber dieses Mal sagte sie: »Ihr Vater war in den letzten Tagen sehr aufgeregt.«
»Inwiefern?«
»Normalerweise ist Ira der netteste und freundlichste Mensch auf der Welt. Aber jetzt hat er plötzlich diese Stimmungsschwankungen …«
»Stimmungsschwankungen hatte er schon immer.«
»Aber nicht solche.«
»Ist er ausfallend geworden?«
»Nein, das meine ich nicht, aber …«
»Was dann?«
Sie zuckte die Achseln. »Er redet sehr viel über die Vergangenheit.«
»Er redet immer über die Sechziger.«
»Nein, ich meine die etwas jüngere Vergangenheit.«
»Über welche Zeit?«
»Er redet über ein Ferienlager.«
Lucy kam sich vor, als hätte sie einen Schlag auf die Brust bekommen. »Was sagt er darüber?«
»Er erzählt, dass er Besitzer von einem Ferienlager war. Und dann verliert er sofort die Nerven. Er fängt an zu toben und erzählt etwas von Blut, Wald, Dunkelheit und so. Er bricht plötzlich ab und sagt überhaupt kein Wort mehr. Das ist ziemlich unheimlich. Und bis letzte Woche hab ich von ihm noch nie ein Wort über ein Ferienlager gehört, und schon gar nicht, dass ihm eins gehört hat. Na ja, Ira ist natürlich ziemlich verwirrt. Also bildet er sich das ja vielleicht nur ein?«
Es war eine Frage, die Lucy aber nicht beantwortete. Am anderen Ende des Flurs erschien eine andere Schwester und rief: »Rebecca?«
Die Krankenschwester, die, wie sie jetzt wieder wusste, Rebecca hieß, sagte: »Ich muss los.«
Als Lucy allein im Flur stand, warf sie noch einen Blick ins Zimmer. Ihr Vater saß wieder mit dem Rücken zur Tür. Er starrte die Wand an. Sie fragte sich,
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