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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Grundstück, war erheblich angenehmer als die meisten vergleichbaren Einrichtungen. In ihm verschwand der größte Teil von Lucys Gehalt.
    Sie parkte in der Nähe des alten VW-Käfers ihres Vaters. Er stand immer genau auf dem gleichen Platz. Sie bezweifelte, dass der im letzten Jahr überhaupt gefahren worden war. Ihr Vater war freiwillig hier. Er konnte jederzeit gehen. Er brauchte sich nur an- oder abzumelden. Traurige Tatsache war jedoch, dass er sein Zimmer so gut wie nie verließ. Die linksradikalen Aufkleber, die den Wagen einst geschmückt hatten, waren verblichen. Lucy hatte einen Zweitschlüssel für den VW und ließ ihn gelegentlich etwas laufen, damit sich die Batterie nicht ganz entleerte. Wenn sie das tat und dabei einfach im Wagen saß, dachte sie an die Vergangenheit. Sie sah Ira in seinem VW. Den Vollbart, die offenen Fenster, das Lächeln und wie er jedem zuhupte, an dem er vorbeikam.

    Sie brachte es nicht übers Herz, eine Spritztour im Käfer zu machen.
    Lucy trug sich an der Rezeption ein. Die Einrichtung hatte sich mehr oder weniger auf ältere Bewohner mit mentalen Problemen spezialisiert, die meistens auf jahrelangen Drogenmissbrauch zurückzuführen waren. Die Bandbreite im Haus war riesig, es gab alles von Bewohnern, die absolut »normal« erschienen, bis zu denen, die als Statisten in Einer flog übers Kuckucksnest hätten auftreten können.
    Ira hatte von beiden etwas.
    Sie blieb bei ihm in der Tür stehen. Ira saß mit dem Rücken zu ihr. Er trug seinen alten Hanf-Poncho. Sein grauer Haarschopf stand in alle Richtungen ab. Let’s Live for Today von The Grass Roots, ein Klassiker von 1967, dröhnte aus dem, was ihr Vater immer noch seine Hi-Fi-Anlage nannte. Lucy wartete, während Rob Grill, der Lead-Sänger der Band, laut »one, two, three, four« anzählte, worauf die Band wieder mit einem »sha-la-lala-la, let’s live for today« herausplatzte. Sie schloss die Augen und sang leise mit.
    Toll. Ein toller Song.
    Das Zimmer hing voller Glasperlen, die Wände waren mit Batiken und einem »Sag mir wo die Blumen sind«-Poster verziert. Lucy lächelte, aber es lag nicht viel Freude in diesem Lächeln. Nostalgie war eine Sache – Realitätsverlust eine ganz andere.
    Ihr Vater war früh dement geworden – niemand wusste genau, ob es am Alter oder am Drogenmissbrauch lag –, und diese Demenz hatte weiter zugenommen. Ira war immer ein Träumer gewesen und hatte schon seit langem in der Vergangenheit gelebt, daher konnte man den Zeitpunkt, an dem es angefangen hatte, nicht genau festlegen. So sahen die Ärzte das zumindest. Aber Lucy wusste, dass der Anstoß, der Auslöser für diese Demenz, jener Sommer gewesen war. Ira wurde im Prozess ein Großteil der Schuld an den Vorgängen im Ferienlager zugeschrieben.
Schließlich war es sein Lager gewesen. Also hätte er mehr für den Schutz der Teilnehmer tun müssen.
    Die Medien hatten sich auf ihn gestürzt, viel schlimmer waren allerdings die Familien der Opfer. Ira war viel zu nett, um damit zurechtzukommen. Am Ende war er daran zerbrochen.
    Heutzutage verließ Ira kaum noch sein Zimmer. Seine Gedanken sprangen oft von einem Jahrzehnt zum nächsten, aber die Sechziger waren das einzige, in dem er sich wirklich wohlfühlte. Oft dachte er auch, dass immer noch 1968 war. In anderen Situationen erkannte er aber auch die Realität – man sah es ihm am Gesicht an –, wollte sie aber nicht wahrhaben. Im Zuge der neuen »Validationstherapie« hielten die Ärzte es für zweckmäßig, dass in seinem Zimmer das Jahr 1968 war.
    Die Ärzte hatten erklärt, dass diese Form der Demenz im Alter nicht besser wird, also sollte der Patient so glücklich und stressfrei wie möglich leben, selbst wenn er sich dazu in seine Fantasiewelt zurückzog. Kurz gesagt: Ira wollte, dass es 1968 ist. In diesem Jahr war er am glücklichsten gewesen. Warum sollte man also dagegen ankämpfen?
    »Hey, Ira.«
    Ira – er hatte nie gewollt, dass sie ihn »Dad« nannte – drehte sich mit von Beruhigungsmitteln verlangsamten Bewegungen zu ihr um. Wie unter Wasser hob er die Hand und winkte ihr zu. »Hey, Luce.«
    Sie blinzelte kurz, um die Tränen zu verbergen. Er erkannte sie immer, wusste immer, wer sie war. Der Widerspruch, dass er im Jahr 1968 lebte und seine Tochter damals noch gar nicht geboren war, konnte seiner Illusion nichts anhaben.
    Er lächelte ihr zu. Ira war immer zu großherzig gewesen, zu freigiebig, zu kindlich und naiv für diese grausame Welt. Sie

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