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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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auf, dass etwas nicht stimmte.
    Da lag ein brauner Umschlag auf dem Fahrersitz.

    Es war nicht mein Umschlag, und ich hatte ihn da auch nicht hingelegt. Außerdem hatte ich die Autotüren abgeschlossen.
    Irgendjemand musste meinen Wagen aufgebrochen haben.
    Ich bückte mich und nahm den Umschlag vom Sitz. Die Vorderseite war leer. Keine Adresse, kein Porto. Der Umschlag fühlte sich auch ziemlich dünn an, es war also nicht viel drin. Ich setzte mich auf den Fahrersitz und schloss die Tür. Der Umschlag war zugeklebt. Ich schlitzte ihn mit dem Zeigefinger auf. Dann griff ich hinein und zog den Inhalt heraus.
    Mein Blut schien zu gefrieren, als ich sah, was es war:
    Ein Foto von meinem Vater.
    Ich runzelte die Stirn. Was zum …?
    Oben auf dem weißen Rand standen in ordentlichen Druckbuchstaben sein Name, »Wladimir Copeland«, und das Jahr. Das war alles.
    Ich begriff nicht, was das sollte.
    Einen Moment lang saß ich einfach nur da. Ich starrte das Foto meines geliebten Vaters an. Ich dachte daran, dass er als junger Arzt in Leningrad gelebt hatte, dass man ihm so viel genommen hatte und dass seine letzten Lebensjahre eine nicht enden wollende Serie aus Tragödien und Enttäuschungen gewesen war. Ich erinnerte mich daran, wie er mit meiner Mutter gestritten hatte, dass beide ihre Verletzungen erlitten und sonst niemanden gehabt hatten, an dem sie ihren Frust auslassen konnten. Ich wusste noch, dass meine Mutter allein zu Hause geweint hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich einige dieser Abende noch lange mit Camille wach gewesen war. Wir beide hatten uns nie gestritten – komisch für Bruder und Schwester –, aber vielleicht hatten wir einfach genug Streit gesehen. Manchmal hatte sie in diesen Situationen meine Hand gehalten oder vorgeschlagen, dass wir spazieren gingen. Aber meistens hatten wir uns in ihr Zimmer zurückgezogen, und Camille hatte einen ihrer dämlichen Lieblingspopsongs aufgelegt und mir erzählt,
warum der ihr so gut gefiel, als ob da irgendwelche tieferen Bedeutungen verborgen wären, und dann hatte sie mir oft noch von irgendwelchen Jungs aus der Schule erzählt, die sie mochte. Ich hatte neben ihr gesessen, zugehört und dabei eine eigenartige Zufriedenheit empfunden.
    Ich verstand es nicht. Was wollte man mir mit diesem Foto …?
    Da war noch etwas im Umschlag.
    Ich drehte ihn um. Nichts. Ich steckte die Hand tief hinein. Es fühlte sich an wie eine Karteikarte. Ich zog die Hand heraus. Ja, eine Karteikarte. Weiß mit roten Linien. Die Vorderseite – die linierte Seite – war leer. Aber auf die Rückseite hatte jemand in Großbuchstaben geschrieben:
    DIE ERSTE LEICHE

    »Weißt du, wer den Bericht geschickt hat?«, fragte Lucy.
    »Noch nicht«, sagte Lonnie. »Aber das krieg ich raus.«
    »Wie?«
    Lonnie stand ihr mit gesenktem Kopf gegenüber. Die Großspurigkeit war verschwunden. Lucy fühlte sich schlecht deshalb. Ihm gefiel nicht, was sie von ihm verlangte. Ihr gefiel es auch nicht. Aber sie hatte keine Wahl. Sie hatte hart daran gearbeitet, ihre Vergangenheit zu verbergen. Sie hatte ihren Namen geändert. Sie hatte sich vor Paul versteckt. Sie hatte ihre naturblonden Haare gefärbt – ach, wie viele Frauen in ihrem Alter hatten noch naturblonde Haare? – und sie durch ein braunes Durcheinander ersetzt.
    »Na denn«, sagte sie. »Bist du hier, wenn ich zurückkomme?«
    Er nickte. Lucy ging die Treppe hinunter zu ihrem Wagen.
    Im Fernsehen ist es immer so einfach, sich eine neue Identität
zuzulegen. Vielleicht war es das auch, nur Lucy hatte es nicht so empfunden. Es war ein langer Weg gewesen. Zuerst hatte sie ihren Nachnamen von Silverstein zu Gold geändert. Silber zu Gold. Clever, was? So ganz überzeugt war sie selbst nicht gewesen, aber sie war gut damit klargekommen, weil dadurch immer eine Verbindung zu ihrem Vater bestehen blieb, den sie so liebte.
    Sie war im Land umhergezogen. Das Ferienlager war längst verschwunden. Zusammen mit dem Vermögen ihres Vaters. Und von ihrem Vater selbst war am Ende auch nicht mehr viel übrig geblieben.
    Das, was von ihrem Vater Ira Silverstein übrig geblieben war, hatte sie in einem Rehabilitationszentrum fünfzehn Kilometer von der Reston University entfernt untergebracht. Auf der Fahrt dahin genoss sie das Alleinsein. Sie hörte sich Tom Waits an, der davon sang, dass er sich hoffentlich nicht wieder verliebte, was er dann aber natürlich doch tat. Sie bog zum Parkplatz ein. Das Haus, eine umgebaute Villa auf einem großen

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