Grab im Wald
war allein.
Der Fahrstuhl fuhr direkt ins Penthaus.
Als die Tür sich wieder öffnete, stand Onkel Sosch nur zwei Meter von mir entfernt. Das Zimmer war riesig. Die Möbel waren kubistisch. Das Panoramafenster zeigte eine unglaubliche Aussicht, an den Wänden hingen jedoch diese dicken, teppichartigen Tapeten in einem Farbton, der wahrscheinlich einen tollen Namen wie »Merlot« hatte, dabei aber wie Blut aussah.
Soschs Miene hellte sich auf, als er mich sah. Er breitete die Arme aus. Zu einer meiner lebhaftesten Kindheitserinnerungen gehört die Größe seiner Hände. Sie kamen mir immer noch riesig vor. Sosch war im Lauf der Jahre grau geworden, aber selbst jetzt, mit über siebzig wirkte er noch so groß und stark, dass ich eine gewisse Ehrfurcht empfand.
Ich trat aus dem Fahrstuhl und blieb dort stehen.
»Was ist?«, fragte er. »Bist du zu alt für eine Umarmung?«
Wir traten aufeinander zu. Unseren russischen Wurzeln entsprechend, fiel die Umarmung herzlich und ungestüm aus. Sosch strotzte nur so vor Kraft. Seine Unterarme waren immer noch dick und drahtig. Als er mich an sich heranzog, hatte ich
das Gefühl, dass er mir ohne Weiteres die Wirbelsäule brechen könnte, wenn er stärker zudrückte.
Nach ein paar Sekunden ergriff er meine Oberarme und schob mich so weit zurück, dass er mich in Ruhe angucken konnte.
»Dein Vater«, sagte er, und jetzt hörte man nicht nur den Akzent, sondern die ganze russische Seele in seinem Ton. »Du siehst genauso aus wie dein Vater.«
Sosch war kurz nach uns aus der Sowjetunion in die Vereinigten Staaten gekommen. Er hatte in Manhattan für InTourist gearbeitet, das sowjetische Reiseunternehmen. Er hatte amerikanische Touristen beraten, die Moskau oder das damalige Leningrad besuchen wollten.
Das war lange her. Seit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums betätigte er sich in dem undurchsichtigen Geschäftsfeld, das sich »Import-Export« nannte. Mir ist nie ganz klar geworden, was genau sich dahinter verbarg – immerhin hatte es ihm aber so viel eingebracht, dass er sich davon das Penthaus leisten konnte.
Sosch musterte mich noch einen Moment lang. Er trug ein weißes Hemd, bei dem die oberen Knöpfe offen standen, so dass man das Unterhemd darunter sah. Ein dickes Büschel grauer Brusthaare lugte daraus hervor. Ich wartete. Ich ging davon aus, dass er schnell zum Thema kam. Onkel Sosch war kein Mann für Smalltalk.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sah Sosch mir direkt in die Augen und sagte: »Ich habe Anrufe bekommen.«
»Von wem?«
»Alten Freunden.«
Ich wartete.
»Aus der alten Heimat«, sagte er.
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Da waren Leute, die Fragen gestellt haben.«
»Sosch?«
»Ja?«
»Am Telefon hast du Angst gehabt, dass uns jemand abhören könnte. Hast du hier auch Angst davor?«
»Nein. Hier sind wir vollkommen sicher. Ich lasse das Zimmer jede Woche prüfen.«
»Prima, wie wäre es also, wenn du aufhörst, in Rätseln zu sprechen und mir sagst, worum es geht.«
Er lächelte. Das gefiel ihm. »Da sind Leute in Russland. Amerikaner. Sie werfen mit viel Geld um sich und stellen Fragen.«
Ich nickte. »Was für Fragen?«
»Über deinen Vater.«
»Und was wollen sie über ihn wissen?«
»Erinnerst du dich noch an die alten Gerüchte?«
»Das soll doch wohl ein Witz sein.«
Aber das sollte es nicht. Und auf seltsame Art war es auch plausibel. Die erste Leiche. Darauf hätte ich auch gleich kommen können.
Natürlich erinnerte ich mich an die Gerüchte. Schließlich hätten sie fast meine Familie zerstört.
Meine Schwester und ich waren während des sogenannten Kalten Kriegs in der damaligen Sowjetunion geboren worden. Mein Vater war Arzt gewesen, doch dann hatte man ihm die Approbation entzogen, nachdem falsche Beschuldigungen in Umlauf gebracht worden waren, weil er Jude war. So war das damals.
Gleichzeitig hatte eine Reform-Synagoge hier in den Vereinigten Staaten – in Skokie, Illinois, um genau zu sein – sich stark für die Rechte der Juden in der Sowjetunion eingesetzt. In den Mittsiebzigern hatten die sowjetischen Juden in den USAMERIKANISCHEN Synagogen für großes Aufsehen gesorgt – sie planten, die Juden aus der Sowjetunion herauszuholen.
Wir hatten Glück. Uns haben sie herausbekommen.
Eine ganze Weile wurden wir in unserer neuen Heimat als
Helden gefeiert. Mein Vater hielt am Freitagabend im Gottesdienst leidenschaftliche Reden über die Notlage der sowjetischen Juden. Viele Kinder trugen Abzeichen.
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