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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Universitäts-Campus. Irgendwo lief immer Musik. Sie schaute auf die Uhr. Mitternacht.
    Sie schaltete ihre eigene iPod-Anlage mit billigen Lautsprechern an und rief die Playlist auf, die sie »Mellow« genannt hatte. Die Stücke waren nicht nur langsam, sondern auch absolut herzzerreißend. Also trank sie in ihrer deprimierenden Wohnung ihren Wodka, atmete den Zigarettenrauch einer toten Frau und hörte sich sehnsüchtige Songs über Einsamkeit, Verlust und Verzweiflung an. Jämmerlich, aber manchmal reichte es, um etwas zu empfinden. Dabei war es ihr egal, ob es schmerzte oder nicht. Solange sie nur überhaupt etwas fühlte.
    Gerade sang Joseph Arthur Honey and the Moon. Er erklärte seiner einzig wahren Liebe, dass er sie erfinden würde, wenn es sie nicht gäbe. Ein echter Hammer. Lucy versuchte, sich einen Mann vorzustellen – einen anständigen Mann –, der so etwas zu ihr sagte. Sie schüttelte verwundert den Kopf.
    Sie schloss die Augen und versuchte, die Einzelteile irgendwie zusammenzubringen. Das passte alles nicht. Plötzlich kam die Vergangenheit wieder hoch. Seit sie erwachsen war, hatte Lucy versucht, dem verdammten Wald hinter dem Ferienlager ihres Vaters zu entkommen. Sie war durch das ganze Land bis nach Kalifornien geflohen, und dann hatte sie kehrtgemacht und war den ganzen Weg wieder zurückgeflohen. Sie hatte ihren
Namen und ihre Haarfarbe geändert. Doch die Vergangenheit war ihr immer auf den Fersen geblieben. Manchmal hatte sie Lucy einen ordentlichen Vorsprung gelassen – sie eingelullt und in der Sicherheit gewiegt, dass sie endlich genug Abstand zwischen jene Nacht und die Gegenwart gebracht hatte –, aber dann hatten die Toten den Abstand doch wieder verkürzt.
    Am Ende hatte die schreckliche Nacht sie immer wieder eingeholt.
    Aber dieses Mal … wieso? Woher stammte dieser Erlebnisbericht? Als der Sommer-Schlitzer in Camp PLUS (Peace, Love, Understanding, Summer) sein Unwesen getrieben hatte, war Sylvia Potter gerade erst geboren worden. Woher sollte sie etwas darüber wissen? Natürlich könnte sie genau wie Lonnie im Internet ein paar Nachforschungen angestellt und dabei etwas über Lucys Vergangenheit erfahren haben. Vielleicht hatte ihr auch jemand etwas davon erzählt? Jemand, der älter und erfahrener war.
    Aber trotzdem. Wie hatte sie davon erfahren? Wie hatte überhaupt irgendjemand davon erfahren? Nur ein einziger Mensch wusste, dass Lucy über das, was in der Nacht wirklich geschehen war, gelogen hatte.
    Und natürlich würde Paul nichts davon sagen.
    Sie starrte die klare Flüssigkeit in ihrem Glas an. Paul. Paul Copeland. Sie sah ihn immer noch vor sich. Der schlanke Körper mit den schlaksigen Armen und Beinen, den langen Haaren, dem umwerfenden Lächeln. Interessanterweise hatten sie sich über ihre Väter kennengelernt. Pauls alter Herr, der früher in seiner Heimat Gynäkologe gewesen war, war der Unterdrückung in der Sowjetunion nur entkommen, um sie hier, in den guten alten USA, wieder zu erleben. Einer solchen Leidensgeschichte hatte Lucys gutherziger Vater noch nie widerstehen können. Also hatte Ira Wladimir Copeland als Arzt im Ferienlager eingestellt. Und damit seiner Familie die Möglichkeit gegeben,
Newark zumindest während der drückenden Sommermonate zu entkommen.
    Lucy hatte die Bilder noch vor Augen – wie sie mit ihrem Wagen, einem kaputten Oldsmobile Ciera, die unbefestigte Straße heraufkamen und schließlich anhielten. Alle vier Türen öffneten sich scheinbar im gleichen Moment, und die vier Familienmitglieder stiegen synchron aus. Lucy war schon in dem Moment, als sie Paul zum ersten Mal sah und ihre Blicke sich begegneten, wie vom Donner gerührt gewesen. Dabei hatte sie noch gesehen, dass es ihm genauso ging. Es gab diese seltenen Momente im Leben – wenn man einen Blitzschlag spürte, der großartig war, dabei aber höllisch schmerzte. Aber man spürte etwas, starke Gefühle, und der Himmel strahlte blauer, die Vögel sangen schöner, und das Essen schmeckte besser, und man dachte jede Sekunde an ihn und wusste ganz genau, dass es ihm genauso ging.
    »Hundertprozentig«, sagte Lucy laut und trank noch einen Schluck von ihrem Wodka-Tonic. Genau wie in diesen jämmerlichen Songs, die sie sich immer wieder anhörte. Ein Gefühl. Eine Gemütsregung. Ob himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, das war egal. Aber es war nicht mehr das Gleiche. Was hatte Elton John in diesem Text von Bernie Taupin über Wodka-Tonic gesungen? Irgendwas in

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