Grab im Wald
»Und Sie behaupten also – wenn es denn stimmt –, dass er die ganze Zeit am Leben war.«
Ich nickte.
»Und wenn er am Leben war …« Raya Singh brach ab. Also beendete ich den Satz für sie.
»Dann kann meine Schwester vielleicht auch noch am Leben sein.«
»Oder«, sagte sie, »Manolo – oder Gil, oder wie auch immer er heißt – hat sie alle umgebracht.«
Seltsam, auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen.
Dabei war er gar nicht so unlogisch. Gil bringt sie alle um und platziert ein paar falsche Hinweise am Tatort, dass er auch zu den Opfern gehört. Aber wäre Gil clever genug gewesen, um so etwas durchzuziehen? Und was war dann mit Wayne Steubens?
Es sei denn, Wayne sagte die Wahrheit …
»Wenn das so ist«, sagte ich, »kriege ich das raus.«
Raya runzelte die Stirn. »Manolo hat gesagt, Sie und Lucy haben gelogen. Warum hätte er das sagen sollen, wenn er die anderen umgebracht hat? Was sollte er dann mit den ganzen Papieren, und warum hat er versucht rauszukriegen, was passiert ist? Wenn er sie umgebracht hätte, dann müsste er doch die Antworten auf diese Fragen kennen, oder?«
Sie kam auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Sie war so verteufelt jung und so schön. Ich wollte sie tatsächlich küssen.
»Was verschweigen Sie mir?«, fragte sie.
Mein Handy klingelte. Ich sah aufs Display. Loren Muse. Ich drückte die Annahmetaste und sagte: »Was gibt’s?«
»Wir haben ein Problem«, sagte Muse.
Ich schloss die Augen und wartete.
»Es geht um Chamique. Sie will widerrufen.«
Mein Büro liegt im Zentrum von Newark. Ich höre andauernd, dass es mit der Stadt wieder bergauf geht. Leider sehe ich nichts davon. Die Stadt ist schon seit ich mich erinnern kann dem Verfall preisgegeben. Aber inzwischen kenne ich sie gut. Die Geschichte hat man der Stadt noch nicht nehmen können. Sie liegt zwar ziemlich versteckt unter der Oberfläche, aber sie ist noch da. Und die Menschen sind einfach wunderbar. Unsere Gesellschaft ist schnell mit Vorurteilen bei der Hand, mit denen auch Städte gern belegt werden, nicht nur Minderheiten
oder Volksgruppen. Aus der Entfernung ist es leicht, sie zu hassen. Ich erinnere mich noch an Janes konservative Eltern und ihre Verachtung für alles, was mit Homosexualität zu tun hatte. Helen, Janes Zimmergenossin auf der Universität, war lesbisch, ohne dass Janes Eltern das wussten. Als sie sie kennenlernten, schlossen sowohl Janes Vater als auch ihre Mutter Helen ins Herz. Als sie erfuhren, dass Helen eine Lesbe war, hatte sie schon Eingang in ihr Herz gefunden. Und dann schlossen sie auch Helens Freundin ins Herz.
So lief das oft. Es war leicht, Schwule oder Schwarze, Juden oder Araber zu hassen. Individuen zu hassen ist erheblich schwieriger.
So war das auch mit Newark. In seiner Gesamtheit konnte man es hassen, aber es gab so viele Viertel, Läden und Bürger, die vor Charme und Kraft strotzten, so dass man automatisch mitgerissen wurde, sich beteiligen und sie am Leben erhalten wollte.
Chamique saß mir im Büro gegenüber. Sie war noch verdammt jung, aber man sah ihr das Leid im Gesicht an. Dieses Mädchen hatte kein leichtes Leben gehabt. Und die Gefahr war groß, dass es nur noch schwerer werden würde. Horace Foley, ihr Anwalt, hatte zu viel Rasierwasser aufgetragen und seine Augen standen zu weit auseinander. Ich bin selbst Anwalt, daher mag ich die Vorurteile nicht, die gegen meinen Berufsstand vorgebracht werden, aber ich war mir ziemlich sicher, wenn unten ein Krankenwagen vorbeifuhr, würde dieser Typ sich aus dem Fenster im zweiten Stock stürzen und versuchen, ihn anzuhalten, um den Patienten als Mandanten zu gewinnen.
»Wir würden es begrüßen, wenn Sie die Anklage gegen Mr Jenrette und Mr Marantz zurückziehen«, sagte Foley.
»Ist nicht drin«, sagte ich. Ich sah Chamique an. Sie hatte den Kopf zwar nicht gesenkt, wich meinem Blick aber aus. »Haben Sie gestern im Zeugenstand gelogen?«, fragte ich sie.
»Meine Mandantin würde niemals lügen«, sagte Foley.
Ich beachtete ihn nicht und sah Chamique in die Augen. Sie sagte: »Die können Sie sowieso nicht überzeugen?«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Das ist es.«
Chamique lächelte mich an, als wäre ich das naivste Wesen, das Gott je erschaffen hatte. »Sie verstehn es wirklich nicht, was?«
»Oh doch, ich versteh das schon. Die Eltern haben Ihnen Geld geboten, wenn Sie Ihre Aussage widerrufen. Inzwischen hat die Summe ein Niveau erreicht,
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