Grab im Wald
ziemlich großzügig von ihr war. Dad und ich waren aus Newark an einen anständigen Ort namens Montclair umgezogen. Ich hatte schon ein Stipendium für die Rutgers University, aber dann bin ich doch auf die Columbia Law School in New York gegangen. Da hatte ich dann Jane kennengelernt.
»Ja«, sagte ich. »Das Geld hat viel verändert.«
»Wollen Sie noch mehr über Ihre alte Flamme wissen?«
Ich nickte.
»Sie ist auf die University of California in Los Angeles gegangen. Hat einen Abschluss in Psychologie gemacht. Dann hat sie ihren Doktor der Psychologie an der University of Southern California gemacht und hinterher noch einen M.A. in Englisch in Stanford. Danach hat sie ziemlich oft die Stellen gewechselt, bis sie schließlich hier um die Ecke an der Reston University gelandet ist. Seit einem Jahr lehrt und forscht sie da. Sie, äh, stand zweimal wegen Trunkenheit am Steuer vor Gericht. Das
erste Mal 2001 und dann noch mal 2003. In beiden Fällen ist es zu einer Einigung mit dem Staatsanwalt gekommen. Ansonsten ist sie nicht vorbestraft.«
Ich dachte nach. Alkohol am Steuer. Das klang ganz und gar nicht nach Lucy. Ihr Vater Ira, der Besitzer des Lagers, war ein leidenschaftlicher Kiffer gewesen – er hatte kein Interesse an irgendetwas gehabt, das nicht high machte. Und seine Tochter hatte jetzt zweimal wegen Trunkenheit am Steuer vor Gericht gestanden. Ich konnte es kaum fassen. Aber das Mädchen, das ich gekannt hatte, durfte damals noch gar keinen Alkohol trinken. Lucy war glücklich, ein bisschen naiv und eher angepasst gewesen, ihre Familie hatte Geld gehabt, und ihr Vater war ein scheinbar harmloser Freigeist gewesen.
Aber auch all das war in jener Nacht im Wald gestorben.
»Noch was«, sagte Muse. Sie richtete sich auf und versuchte, nonchalant zu klingen. »Lucy Silverstein, auch bekannt als Lucy Gold, ist unverheiratet. Ich habe noch nicht alles überprüft, aber nach allem, was ich gesehen habe, ist sie zwischendurch auch nicht verheiratet gewesen.«
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Da bestand sicher keine Verbindung zu den aktuellen Vorfällen. Trotzdem erschütterte es mich. Sie war eine so lebhafte Person gewesen, so klug, voller Energie und so unendlich liebenswert. Wie konnte eine solche Frau so lange Single geblieben sein? Und dann war da auch noch die Sache mit der Trunkenheit am Steuer.
»Bis wann geht ihr Seminar?«, fragte ich.
»Noch zwanzig Minuten.«
»Okay. Ich ruf sie hinterher an. Sonst noch was?«
»Wayne Steubens empfängt keine Besucher mit Ausnahme seines Anwalts und der engsten Familienmitglieder. Aber ich arbeite dran. Ich habe noch ein paar heiße Eisen im Feuer, aber fürs Erste wär’s das.«
»Verschwenden Sie nicht zu viel Zeit darauf.«
»Geht klar.«
Ich sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten.
»Dann geh ich wohl besser«, sagte Muse.
»Ja.«
Sie stand auf. »Oh, eins noch.«
»Was ist?«
»Wollen Sie ein Bild von ihr sehen?«
Ich blickte auf.
»Die Reston University hat Fotos von ihren Dozenten auf den Internetseiten.« Sie hielt einen kleinen Zettel hoch. »Das ist die Adresse.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie den Zettel auf den Schreibtisch und ging.
Ich hatte zwanzig Minuten. Warum also nicht?
Ich rief meine Startseite auf. Ich habe eine bei Yahoo, die man sich selbst zusammenstellen kann. Auf meiner waren Nachrichten, meine beiden Lieblings-Zeitungscartoons – Doonesbury und Fox Trot – und solches Zeug. Ich tippte die Internetadresse ein, die Muse mir gegeben hatte.
Da war sie.
Es war nicht das beste Foto. Lucy lächelte etwas angestrengt mit versteinerter Miene. Man sah ihr an, dass das Foto gestellt war, sie sich aber eigentlich nicht hatte fotografieren lassen wollen. Ihre Haare waren nicht mehr blond. Ich weiß, dass Haare oft nachdunkeln oder grau werden, nahm aber fast an, dass sie sie bewusst dunkel gefärbt hatte.
Das Braun passte nicht zu ihr. Sie war älter geworden – tolle Erkenntnis –, aber wie ich schon vermutet hatte, stand ihr das. Ihr Gesicht wirkte etwas schmaler, und die hohen Wangenknochen kamen stärker zur Geltung.
Und sie war immer noch verdammt schön.
Als ich ihr Gesicht betrachtete, machte sich ein Gefühl in meinem Bauch bemerkbar, das da lange geschlummert hatte. Das konnte ich jetzt allerdings überhaupt nicht brauchen. Mein Leben war schon kompliziert genug. Diese alten Gefühle sollten bleiben, wo sie waren. Ich las Lucys Kurzbiografie und erfuhr nichts.
Die
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