Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
Vom Netzwerk:
Lehrveranstaltungen von Dozenten werden heutzutage oft von den Studenten bewertet – und zwar häufig anonym und im Internet. Ich suchte danach und fand sie. Offensichtlich liebten die Studenten Lucy. Sie bekam unglaublich gute Bewertungen. Ich las ein paar der Kommentare. Sie klangen, als hätten Lucys Seminare ihr Leben verändert. Ich lächelte und empfand einen seltsamen Stolz.
    Die zwanzig Minuten waren um.
    Ich wartete noch fünf Minuten länger, stellte mir vor, wie sie sich von den Studenten verabschiedete, dann noch mit einigen sprach, die zu ihr nach vorne gekommen waren oder einfach herumtrödelten, während sie ihre Unterlagen und Habseligkeiten in eine alte Kunstledertasche packte.
    Ich nahm den Hörer von meinem Bürotelefon und drückte den Knopf der Gegensprechanlage.
    »Ja?«, sagte Jocelyn.
    »Keine Anrufe«, sagte ich. »Keine Unterbrechungen.«
    »Okay.«
    Ich drückte eine andere Taste, bekam ein Freizeichen und wählte Lucys Handynummer. Nach dem dritten Klingeln hörte ich ihre Stimme: »Hallo?«
    Ich war so ergriffen, dass ich kaum Luft holen konnte. Dann bekam ich aber doch noch etwas heraus: »Ich bin’s, Luce.«
    Und dann, ein paar Sekunden später, hörte ich, wie sie anfing zu weinen.

21
    »Luce?«, sagte ich ins Telefon. »Ist alles in Ordnung?«
    »Mir geht’s gut. Es ist bloß …«
    »Ja, ich weiß.«
    »Ich finde es immer noch unglaublich, dass ich das gemacht habe.«
    »Du hast schon damals immer sofort losgeheult«, sagte ich und bedauerte meine Worte, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte. Aber sie brach in Lachen aus.
    »Die Zeiten sind vorbei«, sagte sie.
    Schweigen.
    Dann fragte ich: »Wo bist du?«
    »Ich arbeite an der Reston University. Ich geh gerade über die Liegewiese.«
    »Ach«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
    »Tut mir leid, dass ich dir so eine kryptische Nachricht hinterlassen habe. Ich heiße nämlich nicht mehr Silverstein.«
    Ich wollte ihr nicht auf die Nase binden, dass ich das schon wusste. Da ich sie jedoch auch nicht belügen wollte, sagte ich unverbindlich: »Aha?«
    Wieder Schweigen. Dieses Mal brach sie es.
    »Mann, läuft das zäh.«
    Ich lächelte. »Find ich auch.«
    »Ich komme mir echt bescheuert vor«, sagte sie. »Fast wie mit sechzehn, als ich mir Sorgen wegen eines neuen Pickels gemacht habe.«
    »Geht mir genauso«, sagte ich.
    »Wir verändern uns gar nicht wirklich, oder? Tief im Innersten bleiben wir doch immer verunsicherte Kinder, die sich fragen, was sie wohl machen, wenn sie irgendwann mal erwachsen sind.«

    Ich lächelte immer noch, dachte aber daran, dass sie nie verheiratet war und wegen Trunkenheit am Steuer vor Gericht gestanden hatte. Vielleicht veränderten wir uns nicht sehr, dachte ich, aber ein paar überraschende Kurven macht unser Lebensweg schon.
    »Es ist schön, deine Stimme zu hören, Luce.«
    »Geht mir auch so.«
    Schweigen.
    »Ich hab angerufen, weil …« Sie brach ab. Dann: »Hey, ich weiß nicht mal, wie ich das sagen soll. Vielleicht stell ich dir am besten erst mal eine Frage: Sind dir in letzter Zeit seltsame Dinge passiert?«
    »Was meinst du mit seltsam?«
    »Ich meine damit seltsam in Bezug auf die Nacht.«
    Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen – schließlich hatte ich schon damit gerechnet –, trotzdem verschwand das Lächeln schlagartig aus meinem Gesicht, als ob sie mir eine Ohrfeige gegeben hätte. »Ja.«
    Schweigen.
    »Was geht hier vor, Paul?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich glaube, wir müssen das rauskriegen.«
    »Das seh ich auch so.«
    »Wollen wir uns treffen?«
    »Ja.«
    »Das wird bestimmt ziemlich bizarr«, sagte sie.
    »Ich weiß.«
    »Also, das war nicht meine Absicht. Und ich hab auch nicht angerufen, weil ich dich sehen wollte. Aber ich glaube, wir müssen uns treffen und darüber reden, oder wie siehst du das?«
    »Auf jeden Fall«, sagte ich.
    »Ich fange an zu schwafeln. Ich schwafel meistens, wenn ich nervös bin.«

    »Ich erinnere mich«, sagte ich. Und dann bedauerte ich wieder, dass ich das gesagt hatte, also fuhr ich schnell fort: »Wo sollen wir uns treffen?«
    »Weißt du, wo die Reston University ist?«
    »Ja.«
    »Ich hab heute Nachmittag noch ein Seminar und dann bis halb acht Sprechstunde für die Studenten«, sagte Lucy. »Willst du zu mir ins Büro kommen? Das ist im Armstrong-Haus. Vielleicht so gegen acht?«
    »Okay. Dann bis nachher.«

    Als ich nach Hause kam, war ich überrascht, dass die Medienleute davor Stellung bezogen hatten. Man

Weitere Kostenlose Bücher