Grab im Wald
Ausrede, aber ich wollte wirklich kein Schlupfloch offen lassen. Jerry Flynn war das, was ich gern als »Stierkampf«-Zeugen bezeichne. Da kommt der Stier in die Arena, und ein paar Typen – nicht der Matador – wedeln mit Umhängen herum. Der Stier greift so lange an, bis er erschöpft ist. Dann kommen die Picadores auf Pferden mit langen Lanzen, die sie dem Stier in die Drüsen hinter der Nackenmuskulatur rammen, worauf der Hals so stark anschwillt, dass der Stier ihn nicht mehr richtig bewegen kann. Dann kommen noch ein paar Helfer und werfen dem Stier Banderillas – bunt geschmückte Dolche – in die Seiten. Er blutet stärker. Der Stier ist jetzt eigentlich schon halbtot.
Danach kommt endlich der Matador – vom Spanischen matar, töten, schlachten – und setzt dem Ganzen mit seinem Schwert ein Ende.
An dem Punkt waren wir jetzt. Ich hatte den Zeugen bis zur Erschöpfung gehetzt, ihm eine Lanze in den Nacken gestoßen und ein paar bunte Pfeile in ihn geschleudert. Jetzt war es Zeit für das Schwert.
Flair Hickory tat alles, was in seiner beträchtlichen Macht stand, um mich am Ausholen zu hindern. Er beantragte eine Unterbrechung der Verhandlung, mit der Begründung, dass wir den Film der Verteidigung zu spät vorgelegt und uns dadurch einen unredlichen Vorteil verschafft hätten, weil wir ihn der Verteidigung zur Verfügung hätten stellen müssen, direkt nachdem wir darauf gestoßen waren, bla, bla, bla. Ich hielt dagegen. Schließlich wäre der Film im Besitz seiner Mandanten gewesen. Wir hatten selbst erst gestern Nacht eine Kopie bekommen. Der Zeuge hatte bestätigt, dass der Film im Verbindungshaus angesehen
wurde. Falls Mr Hickory behaupten wollte, seine Mandanten hätten diesen Film nie gesehen, könnte er sie ja in den Zeugenstand rufen.
Flair nahm sich Zeit für seine Argumentation. Er hielt uns hin, stellte unglaublich viele Fragen, beantragte mehrere kurze Klärungsgespräche mit dem Richter und versuchte so, Jerry Flynn die Chance zum Durchatmen zu geben.
Aber es reichte nicht.
Ich hatte es gleich gesehen, als Jerry Flynn wieder im Zeugenstand Platz nahm. Die Lanze und die Dolche hatten ihm ernsthafte Verletzungen zugefügt. Der Film war der letzte Schlag gewesen. Bei der Vorführung hatte Flynn die Augen geschlossen. So fest, wie er sie zugekniffen hatte, konnte man den Eindruck bekommen, dass er versuchte, auch die Ohren zuzukneifen.
Ich sah jetzt, dass Flynn wohl kein übler Kerl war. Er sagte jetzt aus, dass er Chamique gemocht hatte. Die Einladung zur Party war ein ganz normales Date gewesen. Aber dann hatten die höheren Semester Wind davon bekommen und ihn getriezt und schikaniert, bis er sich einverstanden erklärt hatte, ihr perverses »Film-Remake«, zu unterstützen. Und Flynn, das Erstsemester, hatte klein beigegeben.
»Ich habe mich dafür gehasst, dass ich das mache«, sagte er. »Aber Sie müssen das verstehen.«
Nein, muss ich nicht, wollte ich sagen. Aber das verkniff ich mir. Stattdessen sah ich ihn nur an, und er senkte den Blick. Dann sah ich die Geschworenen mit einem herausfordernden Blick an. Die Sekunden verstrichen.
Schließlich wandte ich mich an Flair Hickory und sagte: »Ihr Zeuge.«
Es dauerte eine Weile, bis ich alleine war.
Nach meiner lächerlichen Empörungs-Einlage Muse gegenüber,
beschloss ich, mich als Amateur-Schnüffler zu versuchen. Ich googelte die Telefonnummern, die Lucy meiner Sekretärin gegeben hatte. Bei zweien gab es keine Treffer, aber die dritte, ihre Büronummer, war die Durchwahl zu einer Professorin an der Reston University namens Lucy Gold.
Gold. Silver -stein. Nett.
Ich hatte mir schon gedacht, dass es sich um »meine« Lucy handelte, war mir aber jetzt fast hundertprozentig sicher. Die Frage war nur, wie ich damit umgehen sollte? Die Antwort war ziemlich einfach: Ruf sie zurück und frag, was sie will.
Ich glaube nicht so recht an Zufälle. Seit zwanzig Jahren hatte ich nicht ein Wort von dieser Frau gehört. Jetzt rief sie plötzlich im Büro an und wollte ihren Nachnamen nicht hinterlassen. Es musste etwas mit Gil Perez’ Tod zu tun haben. Und damit gab es natürlich eine Verbindung zu dem Vorfall in Camp PLUS.
Das war ganz offensichtlich.
Ich bin gut darin, manche Lebensbereiche auszublenden. Daher hätte es mir leicht fallen müssen, über sie hinwegzukommen. Eine Sommerromanze, selbst eine sehr intensive, ist eben nicht mehr als das, was der Name schon sagt – eine Romanze. Vielleicht habe ich sie
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