Grab im Wald
geliebt – höchstwahrscheinlich sogar –, aber ich war damals fast noch ein Kind. Und die Liebe von Kindern übersteht kein Blut und keine Leichen. Es gibt Tore zur Vergangenheit. Ich hatte sie geschlossen. Lucy war verschwunden. Es hatte lange gedauert, bis ich das akzeptiert hatte. Aber irgendwann war es mir gelungen, und seitdem waren diese Tore verschlossen.
Jetzt musste ich sie öffnen.
Muse hatte sie in den Datenbanken der verschiedenen Strafverfolgungsbehörden überprüfen wollen. Ich hätte sie nicht davon abhalten dürfen. Ich hatte mich von meinen Gefühlen leiten lassen. Ich hätte mir Zeit nehmen müssen. Es war ein ziemlicher Schock gewesen, als ich ihren Namen gesehen hatte. Ich hätte es ruhig angehen können, den Schock verarbeiten und in
Ruhe über das Ganze nachdenken müssen. Aber das hatte ich nicht getan.
Vielleicht sollte ich doch besser nicht sofort bei ihr anrufen?
Nein, sagte ich mir. Schluss mit den Ausflüchten.
Ich nahm den Hörer ab und wählte ihre Privatnummer. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme und sagte: »Ich bin nicht zu Hause, aber bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.«
Der Piepton kam schnell. Ich war noch nicht so weit, also legte ich auf.
Sehr erwachsen.
Mein Kopf dröhnte. Zwanzig Jahre. Es war zwanzig Jahre her. Lucy war jetzt siebenunddreißig. Ich fragte mich, ob sie immer noch so schön war. Wenn ich sie mir so vorstellte, konnte ihr eine gewisse Reife durchaus stehen. Manchen Frauen tat das einfach gut.
Jetzt konzentrier dich wieder auf deine Arbeit, Cope.
Ich versuchte es. Aber nachdem ich die Stimme gehört hatte, die genauso wie früher klang … es war die akustische Parallele zu einem Treffen mit den alten Zimmergenossen von der Uni. Nach zehn Sekunden spielten die Jahre, die inzwischen vergangen waren, keine Rolle mehr, und man kam sich vor, als ob man wieder im Studentenwohnheim wäre und sich nichts verändert hätte. So fühlte ich mich jetzt. Ihre Stimme klang genau wie früher. Ich war wieder achtzehn.
Ich atmete ein paar Mal tief durch. Es klopfte an der Tür.
»Herein.«
Muse steckte den Kopf durch die Tür. »Haben Sie sie schon angerufen?«
»Ich hab es unter der Privatnummer probiert. Sie war nicht zu Hause.«
»Wahrscheinlich erwischen Sie sie jetzt auch nicht«, sagte Muse. »Sie unterrichtet.«
»Und woher wissen Sie das jetzt schon wieder?«
»Ich bin Chefermittlerin. Und damit bin ich nicht weisungsgebunden.«
Sie setzte sich und legte ihre vernünftigen Schuhe auf den Schreibtisch. Dann musterte sie mich schweigend. Ich sagte auch nichts. Schließlich fragte sie: »Soll ich wieder gehen?«
»Erst nachdem Sie mir erzählt haben, was Sie rausgekriegt haben.«
Sie versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. »Sie hat vor siebzehn Jahren ihren Namen geändert. Sie heißt jetzt Lucy Gold.«
Ich nickte. »So wie das Urteil ausgefallen ist, ist das nur zu verständlich.«
»Welches Urteil? Ach, halt, Sie haben das Ferienlager ja verklagt, stimmt’s?«
»Die Familien der Opfer.«
»Und Lucys Vater war der Besitzer.«
»Genau.«
»Finster.«
»Ich weiß nicht. Eigentlich war ich nicht direkt daran beteiligt.«
»Aber Sie haben den Fall gewonnen.«
»Klar. Das Ferienlager hatte praktisch überhaupt keine Sicherheitsvorkehrungen gehabt.« Ich wand mich, als ich fortfuhr. »Der Großteil von Silversteins Vermögen wurde den Familien zugesprochen.«
»Das Ferienlager.«
»Ja. Wir haben es an einen Bauunternehmer verkauft.«
»Das ganze?«
»Der Wald stand unter Naturschutz. Also konnte man da nicht bauen, und so wurde er einer Gesellschaft der öffentlichen Hand übergeben.«
»Gibt es das Lager noch?«
Ich schüttelte den Kopf. »Der Bauunternehmer hat die alten Hütten abreißen und eine bewachte Wohnsiedlung bauen lassen.«
»Wie viel haben Sie dafür bekommen?«
»Nach Abzug der Anwaltskosten hat jede Familie über achthunderttausend Dollar rausgekriegt.«
Ihre Augen weiteten sich. »Wow.«
»Ja, man kann reich werden, wenn man ein Kind verliert.«
»Ich wollte nicht …«
Ich winkte ab. »Ich weiß. Ich benehm mich nur grad wie ein Arschloch.«
Muse widersprach nicht. »So eine Summe verändert doch bestimmt das ganze Leben«, sagte sie.
Ich antwortete nicht sofort. Meine Eltern hatten ein gemeinsames Konto gehabt. Meine Mutter hatte hunderttausend Dollar mitgenommen, als sie uns verlassen hatte. Den Rest hatte sie uns gelassen. Man könnte wohl sagen, dass das
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