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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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konnte.
    Ich trat zurück.
    »Mr Copeland?«
    Meine Hand bewegte sich wie von selbst. Ich sah, wie meine Finger ihn hochnahmen und vor meine Augen führten.
    Es war ein Ring. Ein Frauenring.
    Ich betrachtete das Foto von Gil Perez, dem Jungen, der zusammen mit meiner Schwester im Wald ermordet worden war. Ich versetzte mich zwanzig Jahre zurück. Dann fiel mir die Narbe wieder ein.
    »Mr Copeland?«
    »Zeigen Sie mir seinen Arm«, sagte ich.
    »Bitte?«
    »Seinen Arm.« Ich drehte mich zum Fenster um und deutete auf die Leiche. »Zeigen Sie mir seinen Scheiß-Arm.«
    York gab Dillon ein Zeichen. Dillon drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Er will den Arm des Toten sehen.«

    »Welchen?«, fragte die Frau in der Leichenhalle.
    York und Dillon sahen mich an.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Beide, würde ich sagen.«
    Sie waren überrascht, aber dann tat die Frau, was ich gesagt hatte. Das Laken wurde weiter zurückgezogen.
    Die Brust war jetzt behaart. Er war schwerer, wog mindestens fünfzehn Kilo mehr als damals, aber das war nicht überraschend. Er hatte sich verändert. Das hatten wir alle. Aber das wollte ich nicht wissen. Ich betrachtete seine Arme, suchte nach der gezackten Narbe.
    Da war sie.
    Auf dem linken Arm. Ich schnappte nicht nach Luft oder so etwas. Es war so, als ob man mir plötzlich einen Teil meiner Realität entrissen hätte und ich zu benommen war, um etwas dagegen zu tun. Ich stand einfach nur reglos da.
    »Mr Copeland.«
    »Ich kenne ihn«, sagte ich.
    »Wer ist das?«
    Ich deutete auf das Foto in der Zeitschrift. »Das ist Gil Perez.«

2
    Früher einmal hatte Professor Lucy Gold, mit ihren beiden Doktortiteln in Englisch und Psychologie, ihre Sprechzeiten geliebt.
    Man hatte die Gelegenheit, sich von Angesicht zu Angesicht mit den Studenten zu unterhalten und sie richtig kennenzulernen. Es machte ihr Spaß, wenn die stillen Typen, die immer mit gesenkten Köpfen hinten im Seminarraum saßen und mitschrieben wie beim Diktat, diejenigen, denen die Haare wie ein schützender Vorhang vors Gesicht fielen – wenn sie bei ihr vor
der Tür standen, den Blick hoben und ihr erzählten, was sie auf dem Herzen hatten.
    Aber meistens – so wie jetzt gerade – kamen nur noch die Arschkriecher, diejenigen, die glaubten, dass ihre Zensur einzig und allein von dem öffentlich zur Schau gestellten Enthusiasmus abhing und sich direkt proportional dazu verbesserte, wie sehr sie sich im Seminar und in der Sprechstunde produzierten, als würde Extrovertiertheit in diesem Land nicht sowieso schon ausreichend belohnt.
    »Professorin Gold«, sagte das Mädchen namens Sylvia Potter. Lucy versuchte, sie sich in jungen Jahren vorzustellen, als Schülerin in der Mittelstufe. Wahrscheinlich war sie damals die penetrante Klassenbeste, die vor jedem Test gejammert hatte, dass sie eine Fünf schreiben würde, um dann als Erste mit selbstgefälligem Grinsen ihre Einser-Arbeit abzugeben und den Rest der Zeit damit zu verbringen, die Notizen in ihrem Heft zu vervollständigen.
    »Ja, Sylvia?«
    »Als Sie vorhin diese Stelle von Yeats vorgelesen haben, also, da war ich ja so ergriffen. Die Worte und die Art, wie Sie Ihre Stimme eingesetzt haben, das klang wie eine richtig ausgebildete Schauspielerin …«
    Lucy Gold überlegte, ob sie sie unterbrechen und sagen sollte: »Tun Sie mir einen Gefallen und backen Sie mir einfach ein paar Kekse«, aber sie lächelte einfach weiter. Das fiel ihr nicht leicht. Sie sah auf die Uhr und kam sich sofort schlecht vor, weil sie das getan hatte. Sylvia war eine Studentin, die versuchte, ihr Bestes zu geben. Mehr nicht. Wir suchen uns schließlich alle unsere Nischen, an die wir uns anpassen, damit wir darin überleben können. Und Sylvias Nische war vermutlich besser gewählt und weniger selbstzerstörerisch als viele andere.
    »Und den Bericht zu schreiben, hat mir auch Spaß gemacht«, sagte sie.

    »Das freut mich.«
    »In meinem ging’s um … na ja, mein erstes Mal, wenn Sie wissen, was ich meine …«
    Lucy nickte. »Das soll vertraulich und anonym bleiben, ja?«
    »Oh, klar.« Sie blickte zu Boden. Das überraschte Lucy. Sylvia sah sonst nie nach unten.
    »Wenn Sie wollen, können wir uns dann hinterher, nachdem wir alle Berichte besprochen haben, noch einmal über Ihren unterhalten. Ganz persönlich, meine ich.«
    Sie hatte den Kopf immer noch gesenkt.
    »Sylvia?«
    Das Mädchen antwortete leise: »Okay.«
    Die Sprechstunde war zu Ende. Lucy wollte nach Hause.

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