Grabesdunkel
die Seidenbluse â das alles strahlte Kontrolle und Würde aus. Doch jetzt lag Vivi Tidemann Pedersen in Embryonalstellung weinend und verschwitzt auf dem Sofa, während zwei Journalisten und ein Fotograf stumme Zeugen ihrer Verzweiflung wurden.
Joakim stand schlieÃlich auf und ging in die Küche, um eine Küchenrolle zu holen. Als er zurückkam, setzte er sich neben sie und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Sie saÃen einige Minuten schweigend da, bis sie sich das Gesicht abwischte, sich aufrichtete und verkündete, dass sie mit dem Interview fortfahren könnten.
Während Joakim der Mutter weitere Fragen stellte, fragte Agnes, ob sie einen Blick in Esters Zimmer werfen dürfe.
»Ja, gehen Sie einfach rein. Es liegt rechts hinten den Gang runter«, antwortete Vivi.
Agnes stand auf und ging in die schmale Diele hinaus. Die dunkle Tür zu Esters Zimmer war nur angelehnt. Agnes hörte die Scharniere leise quietschen, als sie sie ganz aufstieÃ. Die Einrichtung hob sich markant von der des restlichen Hauses ab. Esters Zimmer war noch immer das Zimmer eines Teenagers, ein sicheres Zeichen, dass sie früh zu Hause ausgezogen war, dachte Agnes. An den Wänden hingen Bilder von Ester und ihren Schulfreundinnen. Am Fenster stand ein kleiner weiÃer Schreibtisch. Das Himmelbett war voller rosa und roter Kissen. Direkt daneben standen ein groÃer Kleiderschrank und ein leerer Koffer.
Agnes war vorbereitet: sie hatte eine schwarze Tasche von der Zeitung mitgenommen, mit dem Schriftzug von Nyhetsavisen. Sie hörte die Stimmen aus dem Wohnzimmer und versuchte, den Kleiderschrank so leise wie möglich zu öffnen. Drinnen hingen Esters Kleider, dicht an dicht. Sie war zweifellos ein Partygirl. Davon zeugten die exklusiven Stoffe und Schnitte der Kleider. Ganz vorn hing das charakteristische Bandage-Kleid von Hervé Léger, unten standen zahllose Abendschuhe. Marc Jacobs, Alexander McQueen und Prada las Agnes auf den Sohlen. Ihre Hand fuhr suchend an der linken Seite des Schrankbodens entlang. Agnes erinnerte sich an die Anweisungen, die Ester ihr gegeben hatte, wo die Schachtel stehen sollte.
Sie ertastete den harten Karton und zog ihn heraus. Ein schmaler kleiner Schuhkarton von Givenchy. Sie öffnete ihn nicht, sondern schob ihn vorsichtig in ihre Tasche.
Rasmus fotografierte Vivi Tidemann Pedersen gerade in der Küche, als Agnes zurückkam. Sie setzte sich mit der schwarzen Tasche zwischen den Beinen aufs Sofa. Agnes atmete durch â niemand hatte mitbekommen, was sich darin befand.
Kapitel 25
Sobald sie zurück in der Redaktion waren, setzten Joakim und Agnes sich an den PC, um den ersten Artikel zu schreiben. Rasmus hatte sich einige Bilder von Ester ausgeliehen, die er gerade einscannte. Gegen acht stand der Artikel in der Internetausgabe von Nyhetsavisen: »Freundin des Mordopfers spurlos verschwunden«. Ein kurzer Artikel, der davon berichtete, dass Helles Freundin und Mitbewohnerin gestern Abend nicht nach Hause gekommen und von den Eltern als vermisst gemeldet worden war.
AnschlieÃend schrieben Joakim und Agnes gemeinsam ein längeres Interview mit Vivi Tidemann Pedersen für die morgige Ausgabe. Ressortchef Fredrik Telle trat hinter sie, setzte die kleine Lesebrille auf und studierte über Joakims Schulter die Ãberschrift: »Wurde die Tochter ermordet?«
»Das wird ja immer besser«, kommentierte Telle.
Nachdem alles an die Schlussredaktion geschickt worden war, blieb Agnes noch vor einem der Fernseher sitzen. Ihr Artikel über die Initiative der Christlichen Volkspartei war heute in der Zeitung erschienen. Jetzt hatte die Talkshow Studio 1 das Thema aufgegriffen. Agnes starrte auf den Bildschirm: Der Moderator Tor Vaksdal betrat das Studio so selbstbewusst, als wäre es sein ganz privater Laufsteg. Die Gäste des heutigen Abends waren der Vorsitzende der Christlichen Volkspartei, Terje Ãstby, der rechtspolitische Sprecher der Fortschrittspartei, eine frühere Prostituierte und der politische Redakteur von Dagbladet.
Der Blick des Moderators wanderte selbstbewusst von den Kameras zu den Diskussionsteilnehmern. Seine Stimme klang vertrauenerweckend, seine Bewegungen waren ruhig und sicher. Trotz seiner Adlernase machte er einen charmanten Eindruck, dachte Agnes. Nur der Schweià auf seinem Gesicht verriet, dass er harte Arbeit leistete. Agnes fragte sich, wie oft er wohl zu Hause vor dem Spiegel so
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