Grabesdunkel
möglicherweise sind sie im Balkankrieg gewesen.«
»Wie kommst du darauf?«
Er wusste nicht genau, was er antworten sollte. Es war ein Schuss ins Blaue, eine Vermutung. Obwohl viele Jahre vergangen waren, seit der Balkan zersplittert war, hielt sich eine ganze Reihe von offiziell verurteilten und gesuchten Kriegsverbrechern in Norwegen auf. Bürokratisches Chaos, Unfähigkeit und lange Bearbeitungszeiten waren die Erklärungen. Die Ausländerbehörde machte gerne das Justizministerium und den Gerichtshof in Den Haag für mangelnde Informationen verantwortlich. Und während die Bürokraten planlos vor sich hin arbeiteten, wurden Aufenthaltsgenehmigungen erteilt, obwohl die betreffenden Personen wegen Mordes, Folter oder Vergewaltigung verurteilt worden waren. Es war ein offenes Geheimnis, dass einige von ihnen zentrale Positionen in der Unterwelt von Oslo innehatten.
»Ich habe keine brauchbare Antwort auf deine Frage, nur das Gefühl, dass es sich um Kriegsverbrecher handeln könnte. Klingelt irgendetwas bei dir?«
»Das ist eine heikle Angelegenheit, mit der du dich da beschäftigst. Ich muss meine Akten durchsehen. Ich rufe dich an, wenn ich etwas habe.«
Im Verlagsgebäude war es ruhig, als Joakim zurückkam. Er lieà sich in der Redaktion nieder und blätterte die Zeitungen durch, die herumlagen. Immer wieder befiel ihn das Gefühl, irgendetwas nicht gelesen, nicht mitbekommen zu haben. Er hatte schon mehr als genug zu tun, sich in seinem eigenen Bereich, der Kriminaljournalistik, einem der brisantesten Fachgebiete überhaupt, auf dem Laufenden zu halten. Am meisten schätzte er es, wenn der Blickwinkel auf Missstände in der Gesellschaft gerichtet wurde, wenn die Arbeitsmethoden der Polizei oder die Vorgehensweise der Gerichte kritisch beleuchtet und die Zusammenhänge und Hintergründe der Kriminalität aufgedeckt wurden â oder besser noch: wenn die Presse zur Lösung eines konkreten Kriminalfalls beitragen konnte. Doch allzu oft bestand ihre Arbeit darin, ausschlieÃlich über die neuesten Nachrichten zu berichten.
Seine Zeitungslektüre wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Er konnte die Redaktionsassistentin nirgendwo sehen. In der Regel betreute sie tagsüber die Redaktionshotline. Er wartete kurz, hoffte, dass das Klingeln aufhören würde, aber das tat es nicht. Hin und wieder kamen wirklich gute Tipps über die Redaktionshotline herein, doch meistens war es der reine Wahnsinn. Die wirklich guten Informanten riefen direkt bei den Journalisten an.
Mit einem tiefen Seufzer nahm Joakim den Hörer ab. Das letzte Mal, als er an dieses Telefon gegangen war, hatte er eine halbe Stunde lang eine verzweifelte Mutter in der Leitung gehabt, der gerade beide Söhne vom Jugendamt weggenommen worden waren. Sie war so betrunken gewesen, dass er ganz sicher nichts über ihren Fall hätte schreiben können, doch Joakim hatte nicht das Herz gehabt, den Hörer aufzulegen, und hatte gewartet, bis sie sich ausgeweint hatte.
»Nyhetsavisen, Redaktionshotline.«
Als Antwort war nur ein Atmen zu hören. Vielleicht handelte es sich um einen der Gestörten, die hin und wieder anriefen.
»Hallo?«, versuchte Joakim es erneut.
»Ich weiÃ, wo Helle Isaksens Mörder steckt.«
»Aha?« Joakim war nicht ganz überzeugt, griff jedoch pflichtschuldigst nach einem Stift und einem Blatt Papier, das auf dem Schreibtisch lag.
Die Stimme gehörte einer erwachsenen Frau.
»Aber ich will mit einem Journalisten reden.«
»Sie reden mit einem Journalisten.«
»Schreiben Sie mit?«
»Ich schreibe mit. Woher wissen Sie, wer Helle Isaksen umgebracht hat?«
»Ich habe es gesehen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe seherische Fähigkeiten. Ich sehe. Ich bin seherisch begabt.«
»Aha«, antwortete Joakim und unterdrückte einen resignierten Seufzer. Ãber die Jahre hatte er an diesem Telefon mit vielen solcher Menschen gesprochen.
»Es werden noch mehr sterben«, fuhr die Frau fort.
»Ja, ja«, antwortete Joakim wieder, während er sich geistesabwesend Notizen machte, vor allem aus Gewohnheit: Mehrere werden noch sterben.
»Warten Sie. Jetzt weià ich es â Sie sind einer von uns.«
Er hielt im Schreiben inne, antwortete nicht.
»Ich weiÃ, dass Sie es wissen«, fuhr die Stimme im Hörer fort.
»Nein, tut mir leid«,
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