Grabesdunkel
Putzfrau â¦Â«
Agnes wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Diese Sichtweise lag meilenweit von ihrer Begriffswelt entfernt. Sie war in einem sozialistisch geprägten Elternhaus am äuÃersten Rand Nordnorwegens aufgewachsen und immer wieder überrascht, wenn Klassenunterschiede so deutlich zutage traten.
»Ich habe nie verstanden, warum Ester mit diesem Flittchen zusammenwohnen wollte«, fuhr Esters Mutter fort.
»Flittchen?«, wiederholte Agnes, wie um sich zu versichern, dass sie richtig gehört hatte.
»Na ja, diese Affäre, die sie mit diesem verheirateten Professor hatte. Sie war nachts ja nur selten zu Hause, soweit ich das verstanden habe. Diese Partys und das viele Ausgehen, das war eine ganz andere Welt. Sie hat meine Tochter in etwas hineingezogen, davon bin ich überzeugt. Aber am schlimmsten ist, dass die Polizei nichts unternommen hat.«
Zurück in der Redaktion, setzte Agnes sich an den nächsten Artikel für die Titelseite. »Polizei für Tod der Tochter verantwortlich? Die Mutter der ermordeten Ester Tidemann Pedersen vertritt die Meinung, dass die Polizei den Mord hätte verhindern können. Diese Behauptung ist unangemessen, erklärt Ermittlungsleiterin Kristine Rosenberg.« Sie hatten den Handelshochschulmorden, wie sie jetzt von allen Medien genannt wurden, sechs Seiten in der Printausgabe eingeräumt. Den Auftakt bildete Agnesâ Interview mit der Mutter. Darauf folgte Joakims Doppelseite unter der Ãberschrift »Gefoltert und eingefroren«. Ein Artikel über Helle Isaksens Beerdigung rundete das Ganze ab. Die Ãberschrift »Du warst alles für uns« stammte aus der Ansprache von Helles Mutter.
Kapitel 44
Dienstag, 10. Mai
Das schöne Wetter vom Vortag hatte keineswegs den Sommer eingeläutet. Am Dienstag regnete es wieder kräftig.
Agnes hatte die erste Nacht drauÃen in Nesodden gut überstanden. Doch dann bekam Ellen einen Anruf, dass ihre Mutter, die in Bodø wohnte, einen Schlaganfall erlitten hatte. Auf dem Weg zum Flughafen meldete sie sich bei ihrem Sohn und vereinbarte mit ihm, dass er nach Nesodden kommen und auf Agnes aufpassen sollte, bis sie in ein paar Tagen wieder zurückkäme.
Sowohl Joakim als auch Agnes hatten mehr als genug zu tun. Die Arbeit war mühsam. Sie checkten ihre Quellen, aber sie kamen nicht weiter und wussten nicht, welchen Spuren sie nachgehen sollten. Als sie mehrere Stunden später noch immer nichts erreicht hatten, gingen sie hoch in die Kantine, um etwas zu essen.
»Ich krieg den Zusammenhang nicht klar«, seufzte Agnes.
»Wohl wahr. Der Mord an Helle hatte alles, was zu einem Mord aus Eifersucht dazugehört. Sie ist offenbar im Affekt ermordet worden. Der Mord an Ester dagegen scheint geplant gewesen zu sein, wenn unsere Informationen stimmen, dass sie mehrere Stunden lang brutal gefoltert wurde.«
Sie holten sich beide das Tagesgericht â zerkochten Dorsch mit matschigen Kartoffeln â und setzten sich an einen Fenstertisch. Joakim warf seine dunkelbraune Aktentasche auf den Tisch. Ein Teil des Inhalts rutschte heraus. Ganz zuoberst lag die Klarsichtmappe mit den Hellvik-Infos. Agnes warf einen neugierigen Blick darauf.
»Darf ich?«
Joakim zögerte kurz, dann nickte er und beobachtete sie, während sie den Inhalt herauszog. Die Mappe war dünn. Agnes griff nach einem Blatt Papier mit einer Mindmap. »Fjellslott« stand in der Mitte, der Name der alten Firma von Hans Adler Hellvik. Von diesem Wort gingen Pfeile in verschiedene Richtungen, die auf weitere Namen verwiesen. Sie studierte das Papier, ohne richtig zu verstehen, was das Ganze zu bedeuten hatte. Dann zog sie die nächsten zwei Blätter heraus. Es waren die Fotos von zwei Männern Ende dreiÃig: Admir Banovici, grobschlächtig, mit kurzem, nach hinten gekämmtem Haar und einem finsteren Blick. Ratomir DamnjanoviÄ, schmäler, dunkler, mit fast schwarzen Augen. Joakim sah, wie Agnes beim Anblick der Bilder zusammenzuckte, als würde sie die Gesichter wiedererkennen.
»Kriegsverbrecher«, erklärte er. »Und meinen Informationen zufolge arbeiten sie auch als Schläger für den Finanzhai Hans Adler Hellvik.«
Joakim erzählte Agnes, was er von Aida erfahren hatte. Als Ratomir und Admir seinerzeit nach Norwegen kamen, knüpften sie im Gefängnis Kontakte zu norwegischen Kriminellen. Sie trainierten mit ihnen und lernten
Weitere Kostenlose Bücher