Grabesdunkel
Kribbeln in den Händen, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Joakim zuckte leicht zurück und sah sie forschend an, als wollte er sich vergewissern, dass sie wusste, was sie tat. Sie sagte nichts. Ihre Nasenflügel vibrierten. Dann streckte sie sich noch einmal zu ihm hoch, und diesmal trafen sich ihre Lippen.
Plötzlich wich er zurück.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Da kommt jemand«, flüsterte er.
»Was? Ich höre nichts.«
Es vergingen vielleicht zehn Sekunden. Dann hörte Agnes es auch. Das Geräusch von Bremsen, die auf dem nassen Kies quietschten. Von Autotüren, die geöffnet und wieder geschlossen wurden. Sie starrte Joakim an.
»Deine Mutter?«
Joakim erhob sich abrupt und schüttelte den Kopf. Agnes fiel ein, dass Ellen Lunds Auto noch immer in der Garage stand.
»Nachbarn? Oder Besuch?«
Joakim schüttelte erneut den Kopf. Dann legte er den Finger auf die Lippen und bewegte sich lautlos zur Treppe hinter der Eingangstür. Agnes nahm an, dass er hoch ins Büro wollte, wo die geladene Waffe lag. Es war so still, nur ihr Atem war zu hören. Joakim hatte gerade die Diele erreicht, als ein wahnsinniger Krach ertönte. Eine Axt durchschlug die dünne Eingangstür.
»Lauf!«, schrie Agnes aus vollem Hals, während sie den Rufmelder betätigte, den sie immer bei sich trug. »Lauf!«
Kapitel 46
Es geht einzig und allein darum, zu überleben, dachte Agnes. Am Leben zu bleiben, bis die Polizei eintrifft.
Die beiden sahen, wie sich eine Hand auf die innere Türklinke legte. Sie wussten nicht, was sie auf der anderen Seite erwartete, wie viele es waren und wer. Agnes lief ins Wohnzimmer und riss die Verandatür auf, die auf die Terrasse führte.
»Los, weg hier, verdammt noch mal!«, rief sie ihm zu. Sie merkte, wie panisch ihre Stimme klang.
Joakim blieb einige Sekunden stehen. Er schien abzuwägen: Kampf â Flucht â Kampf â Flucht.
Sie hatte einen kleinen Vorsprung. Joakim war zwanzig Meter hinter ihr. Die Sohlen ihrer Stiefeletten rutschten im nassen Gras. Der ordentlich gemähte Rasen ging an dieser Stelle in wilde Wurzeln und scharfe Halme über. Sie schnappte nach Luft, schwankte ins dunkle Nichts. Hinter sich hörte sie die Stimmen näher kommen. Sie drehte sich um und sah Joakim, der von zwei schwarz gekleideten Männer verfolgt wurde. Admir und Ratomir. Sie wusste es. Diesmal würde Admir es tun, diesmal würde er es zu Ende führen und sie umbringen.
Ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Sie rutschte auf einer glatten Wurzel aus und spürte ein heftiges Pochen im Knöchel. Ich muss klar denken, ermahnte sie sich. Ich darf mich von der Angst nicht lähmen lassen.
Sie kroch hinter einen groÃen Nadelbaum mit ausladenden Ãsten, der am Waldrand stand. Von ihrem Versteck aus konnte sie das Haus beobachten. Joakim lief im Zickzack zwischen den Bäumen herum, die beiden Männer hinter ihm her. Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Sie würden ihn letztendlich kriegen, er hatte keine Chance â nicht bei diesen beiden.
Jetzt hatte Joakim einen Stock zu fassen bekommen. Er wollte offenbar kämpfen. Der Stock in seinen Händen wirkte so winzig. Die Männer waren mit schweren Schlaghölzern bewaffnet. Ein einziger Schlag konnte reichen, um ihn niederzustrecken. Er duckte sich, doch sie sah, wie unsicher er war.
Agnes versuchte sich aufzurichten. Der Knöchel tat weh, war aber nicht gebrochen. Sie kroch unter den Tannenzweigen hervor, duckte sich, um nicht entdeckt zu werden, und schlich zurück zum Garten. Sie hatte das sichere Gras fast erreicht, als sie die Stimmen hörte. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten, doch der Sinn war eindeutig. Der eine drehte sich zu ihr um, während der andere sich auf Joakim konzentrierte.
Ich kann es noch schaffen, dachte sie fieberhaft und hinkte quer über den Rasen. Admir trat in dem Moment aus dem Wald, als sie die Verandatür hinter sich zugezogen hatte. Sie schloss ab, wusste jedoch, dass ihr das nicht viel Zeitvorsprung einbringen würde. Sie rannte zur Treppe, hoch in die erste Etage und ins Büro. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den kleinen schwarzen Koffer zunächst nicht aufbekam. Als es ihr endlich gelang, hörte sie Glas splittern.
Admir war offenbar durch ein Fenster eingestiegen. Dann wurde es still. Sie war wie
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