Grabesdunkel
damit.«
»Ich glaube, wir haben eine folgenschwere Fehleinstellung vorgenommen.«
Sie unterdrückte einen Seufzer. Eine Neueinstellung war eine Investition in Millionenhöhe. Jetzt, wo Stellen gekürzt werden sollten, konnten sie sich keine Journalisten leisten, die den in sie gesetzten Erwartungen nicht entsprachen.
»Um wen geht es?«, fragte sie.
»Um Agnes Lea.«
Kapitel 41
Nach dem Gespräch im Büro der Nachrichtenchefin rief Joakim seine Mutter an. Er suchte ihren Rat, denn er machte sich ernsthaft Sorgen um Agnes.
»Dann schlage ich vor, dass Agnes zu mir nach Nesodden zieht«, sagte seine Mutter. »Du weiÃt ja, ich habe hier drauÃen schon öfter Frauen versteckt. Das ist zwar auch keine Sicherheitsgarantie, aber wahrscheinlich besser, als wenn sie alleine zu Hause in ihrer Wohnung ist.«
»Du hast recht«, meinte Joakim. »Danke für dein Angebot.« Während seiner gesamten Kindheit und Jugend hatte er mit strengen Sicherheitsvorkehrungen gelebt. Die Arbeit seiner Mutter in der Frauenhausbewegung hatte eben ihren Preis. Mehrere Male waren sie Morddrohungen von wütenden Exmännern ausgesetzt gewesen, deren Frauen bei ihnen Schutz gesucht hatten. Zusätzlich zu den SicherheitsmaÃnahmen, die ihnen von der Polizei angeboten wurden, hatte seine Mutter sich auf illegalem Weg eine Waffe beschafft. Sie hatte die Pistole von einer Freundin bekommen, die SchieÃsport betrieb. Joakim hatte bereits als Teenager schieÃen gelernt. Seine Mutter ging kein Risiko ein. Die Männer, die sie bedrohten, wurden schon lange nicht mehr von der Vernunft gesteuert.
Joakim erzählte Agnes vom Angebot seiner Mutter, und sie willigte ein. AnschlieÃend teilten sie die Arbeitsaufgaben unter sich auf. Joakim würde zu Helle Isaksens Beerdigung gehen, während Agnes versuchen wollte, Kontakt zu Ester Tidemanns Familie aufzunehmen.
Der Rasen vor der Kirche in Lambertseter war schwarz vor Menschen. Joakim und der Fotograf Rasmus Sender gingen die Kirchentreppe hoch, beide trugen dunkle Anzüge. Rasmus bewahrte seine Arbeitskleidung im Kofferraum des Autos auf â auch den Anzug, dem die lausige Behandlung deutlich anzusehen war: Er wirkte unordentlich und zerknittert und war an der rechten Schulter grau vor Schmutz.
Die beiden bahnten sich einen Weg in die Kirche. Die Fernsehsender, aber auch VG, Dagbladet und der norwegische Pressedienst waren vor Ort. Der Mord an Ester Tidemann Pedersen hatte dem Fall Helle Isaksen neuen Zündstoff verliehen.
Er entdeckte Helene sofort, sie stand mit einem der Fotografen zusammen. Er hatte nicht übel Lust, sie durchzuschütteln, sie anzuschreien. Als es ihm gelang, ihren Blick einzufangen, versuchte sie zurückzulächeln, doch er drehte sich weg.
Joakim erkannte die Eltern der Toten von dem Bild, das VG bei dem Interview mit ihnen gemacht hatte. Berit und Ivar Isaksen hatten ihr einziges Kind verloren. Ihre Augen waren tot â als gäbe es nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte. Sie standen am Eingang, wo das Bestattungsunternehmen einen kleinen Tisch aufgestellt hatte. Von einer Fotografie blickte Helle sie aus unergründlichen Augen an. Das Bild war in Gold gerahmt und wahrscheinlich von den Eltern sorgfältig ausgewählt worden.
Joakim fand einen Platz auf der linken Seite. Rasmus zwängte sich in eine Reihe weiter vorne. Neben Joakim saÃen Freundinnen von Helle, schwarz gekleidete junge Mädchen mit zerflossenem Make-up. Er sah sich in der Kirche um, genau wie die anderen Journalisten. Das groÃe Gebäude aus Beton und Ziegeln fasste an die sechshundert Personen und war fast voll.
Joakim entdeckte Tom Marius Westerberg. Er trug eine Sonnenbrille und saà neben Marianne, der rothaarigen Kommilitonin, die Joakim und Rasmus geholfen hatte, Helles Exfreund zu finden.
Ganz vorne, vor der imposanten Altartafel aus Messing, Kupfer, Stahl und Glas, stand der Pfarrer. Joakim war vor Jahren schon einmal hier gewesen, bei der Konfirmation eines Cousins. Er erinnerte sich sogar noch an die Deutung der Symbole. Der unterste Teil war aus Messing und symbolisierte die Eingangspforte zu Gottes Reich. Die Arme versinnbildlichten Gottes Barmherzigkeit und Fürsorge. Der Kreis sollte das Auge Gottes darstellen, das alles sah. Joakim fragte sich, ob Gott auch Helle Isaksen gesehen hatte, als sie ermordet wurde. Ob er ihr in ihrem kurzen Leben Barmherzigkeit und Fürsorge
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