Grabesgrün
fallengelassen; in mir jedoch hatte sie irgendetwas erkannt, irgendeine subtile, aber elementare Eigenschaft, die mich für sie nützlich machte.
Ich sagte nicht als Zeuge in Damiens Prozess aus. Zu riskant, meinte der Staatsanwalt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Rosalind Damien von meiner »persönlichen Geschichte«, so seine Wortwahl, erzählt hatte, sei zu groß. Er hieß Mathews, und er ist einer, der auffällige Krawatten trägt und häufig als »dynamisch« bezeichnet wird und den ich ungemein anstrengend finde. Rosalind hatte das Thema nicht mehr zur Sprache gebracht – offenbar war Cassie überzeugend genug gewesen, sodass sie sich auf andere, vielversprechendere Waffen konzentriert hatte –, und ich bezweifelte, dass sie Damien auch nur irgendetwas Nützliches erzählt hatte, aber ich widersprach ihm nicht.
Ich war jedoch dabei, als Cassie aussagte. Ich saß ganz hinten im Gerichtssaal, der ungewöhnlich voll besetzt war. Der Prozess hatte die Titelseiten schon gefüllt, ehe er überhaupt begonnen hatte. Cassie trug ein schickes taubengraues Kostüm, und ihr lockiges Haar war mit Gel gebändigt. Ich hatte sie seit Monaten nicht gesehen. Sie sah dünner aus, ernsthafter. Die Quirligkeit, die ich mit ihr verbunden hatte, war verschwunden, und durch die neue Ruhe, die sie ausstrahlte, wirkte ihr Gesicht – die zarten, markanten Bögen über den Augenlidern, der breite, klare Schwung ihres Mundes – so, als hätte ich es nie zuvor gesehen. Sie war älter, nicht mehr die freche gelenkige junge Frau mit der kaputten Vespa, aber für mich deshalb nicht weniger schön: Cassies rätselhafte Schönheit ist nicht vordergründig, sondern liegt in den tieferen Ebenen ihres gesamten Körpers. Als ich sie in dem ungewohnten Kostüm im Zeugenstand sah, musste ich an die weichen Härchen in ihrem Nacken denken, warm und nach Sonne duftend, und auf einmal kam es mir unvorstellbar vor, wie das größte und traurigste Wunder meines Lebens, dass ich einmal ihr Haar berührt hatte.
Sie war gut. Cassie war im Gerichtssaal schon immer gut. Geschworene vertrauen ihr, und sie schafft es, dass sie ihr aufmerksam zuhören, was nicht leicht ist, gerade in einem langen Prozess. Sie beantwortete Mathews’ Fragen mit ruhiger, klarer Stimme, die Hände im Schoß gefaltet. Im Kreuzverhör tat sie für Damien, was sie konnte: Ja, er hatte aufgewühlt und konfus gewirkt; ja, er schien aufrichtig zu glauben, dass der Mord notwendig war, um Rosalind und Jessica Devlin zu schützen; ja, ihrer Meinung nach hatte er unter Rosalinds Einfluss gestanden und die Tat auf ihr Drängen hin verübt. Damien kauerte auf seinem Stuhl und starrte sie an wie ein kleiner Junge, der einen Horrorfilm sieht, mit verschreckten, großen, verständnislosen Augen. Er hatte einen Selbstmordversuch begangen, mit dem altbewährten Bettlaken, als er hörte, dass Rosalind gegen ihn aussagen würde.
»Als Damien die Tat gestanden hat«, fragte der Verteidiger, »hat er Ihnen da gesagt, warum er es getan hat?«
Cassie schüttelte den Kopf. »Nicht an dem Tag, nein. Mein Partner und ich haben ihn etliche Male nach dem Motiv gefragt, aber er hat entweder keine Antwort gegeben oder gesagt, er wisse es nicht genau.«
»Obwohl er bereits gestanden hatte und es ihm nicht weiter geschadet hätte, wenn er das Motiv genannt hätte. Was glauben Sie, warum?«
»Einspruch: spekulativ ...«
Mein Partner. Cassies Blinzeln bei dem Wort, der fast unmerkliche Ruck in ihren Schultern, das verriet mir, dass sie mich ganz hinten versteckt gesehen hatte, aber sie blickte nicht ein einziges Mal in meine Richtung, nicht einmal, als die Anwälte mit ihr fertig waren, sie aus dem Zeugenstand trat und den Saal verließ. In dem Augenblick dachte ich an Kiernan, wie es für ihn gewesen sein musste, als McCabe nach dreißigjähriger Partnerschaft an einem Herzinfarkt starb. Mehr als ich irgendwen je um etwas beneidet habe, beneidete ich Kiernan um diese einzigartige und unerreichbare Trauer.
Rosalind wurde als nächste Zeugin aufgerufen. Begleitet von Getuschel und Journalistengekritzel schlich sie in den Zeugenstand und schenkte Mathews ein schüchternes, zartes Lächeln ihrer Mascara-Augen. Ich ging. Am nächsten Tag las ich in der Zeitung, dass sie geschluchzt hatte, als sie über Katy sprach, gezittert, während sie schilderte, wie Damien gedroht hatte, ihre Schwestern umzubringen, falls sie mit ihm Schluss machte, dass sie, als sein Verteidiger nachhakte, geschrien hatte, »Wie können
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