Grabesgrün
eine Frage an Sie«, sagte er. »Stimmt das, was Rosalind erzählt hat, dass Sie der Junge sind, dessen Freunde damals spurlos verschwunden sind?«
Die Frage überraschte mich nicht. Als Vater hatte er das Recht, sich die Aufnahmen von Rosalinds Vernehmungen anzusehen, und irgendwie hatte ich immer damit gerechnet, dass er fragen würde, früher oder später. Ich wusste, ich sollte es abstreiten – die offizielle Version lautete, dass ich die Geschichte mit meinen verschwundenen Freunden erfunden hatte, um Rosalinds Vertrauen zu gewinnen –, aber ich hatte weder die Energie noch sah ich einen Sinn darin. »Ja«, sagte ich. »Adam Ryan.«
Jonathan wandte den Kopf und sah mich lange an, und ich fragte mich, was für verschwommene Erinnerungen er wohl mit meinem Gesicht abglich.
»Wir hatten nichts damit zu tun«, sagte er, und der Klang seiner Stimme – sanft, fast mitleidig – erschreckte mich. »Ich möchte, dass Sie das wissen. Nicht das Geringste.«
»Ich weiß«, sagte ich schließlich. »Tut mir leid, dass ich auf Sie losgegangen bin.«
Er nickte langsam. »Hätte ich wahrscheinlich auch getan, an Ihrer Stelle. Und ich bin ja nun wirklich kein Heiliger. Ihr habt gesehen, was wir mit Sandra gemacht haben, nicht? Ihr wart da.«
»Ja«, sagte ich. »Sie will keine Anzeige erstatten.«
Er bewegte den Kopf, als fände er den Gedanken störend. Der Fluss war dunkel und sah dickflüssig aus, mit einem öligen, ungesunden Glanz. Irgendetwas trieb im Wasser, Müll oder vielleicht ein toter Fisch. Die Seemöwen wirbelten kreischend darüber hinweg.
»Was werden Sie jetzt machen?«, fragte ich.
Jonathan schüttelte den Kopf, starrte auf den tiefen Himmel. Er sah erschöpft aus – nicht die Art von Erschöpfung, die sich mit einmal richtig Ausschlafen oder ein paar Tagen Urlaub beheben lässt; etwas Knochentiefes und Unauslöschliches, das sich in verschwollenen Furchen um Augen und Mund eingenistet hatte. »Wegziehen. Man hat uns Ziegelsteine durchs Fenster geworfen, und jemand hat ›Kinderschänder‹ aufs Auto gesprüht. Ich bleibe noch, bis die Sache mit der Schnellstraße erledigt ist, wie auch immer sie ausgeht, aber danach ...«
Jedem Verdacht auf Kindesmissbrauch, so abwegig die Behauptungen auch sein mögen, muss nachgegangen werden. Damiens Anschuldigungen gegen Jonathan hatten sich zwar als haltlos erwiesen, und das Dezernat für Sexualdelikte hatte äußerst diskret ermittelt, aber über irgendein mysteriöses System von Buschtrommeln kriegen Nachbarn nun mal alles spitz, und es gibt immer ein paar Leute, die glauben, wo Rauch ist, muss auch Feuer sein.
»Ich schicke Rosalind in Therapie, wie der Richter gesagt hat. Ich hab mich ein bisschen schlau gemacht, und in allen Büchern steht, bei Leuten wie ihr hilft auch keine Therapie, sie sind einfach so, und da kann man nichts machen, aber ich muss es versuchen. Und ich behalte sie so lange ich kann zu Hause, wo ich sie im Auge habe und vielleicht verhindern kann, dass sie sich wieder ein Opfer sucht. Im Oktober geht sie aufs College, Musik am Trinity, aber ich hab ihr schon gesagt, dass ich ihr kein Geld für eine Wohnung gebe – sie bleibt zu Hause oder muss sich einen Job suchen. Margaret glaubt noch immer, dass sie nichts getan hat und ihr sie reingelegt habt, aber sie ist froh, wenn sie sie noch eine Zeitlang zu Hause hat. Sie sagt, Rosalind ist sensibel.« Er räusperte sich mit einem rauen Geräusch, als würde das Wort schlecht schmecken. »Jess schicke ich zu meiner Schwester nach Athlone, sobald ihre Handgelenke verheilt sind. Ich will sie aus der Gefahrenzone raushaben.«
Sein Mund zuckte in einem bitteren Halblächeln. »Gefahrenzone. Die eigene Schwester.« Ich dachte kurz daran, wie es die letzten achtzehn Jahre in dem Haus gewesen sein musste, wie es jetzt wohl dort war, und bei der Vorstellung drehte sich mir vor Entsetzen der Magen um.
»Wissen Sie was?«, sagte Jonathan unvermittelt. »Margaret und ich waren erst ein paar Monate zusammen, als sie feststellte, dass sie schwanger war. Wir waren beide geschockt. Ich hab es einmal über die Lippen gebracht, ob sie nicht vielleicht ... mit dem Schiff nach England fahren sollte. Aber ... klar, sie ist sehr religiös. Es war schon schlimm genug für sie, dass sie überhaupt schwanger geworden war ... Sie ist eine gute Frau, ich bereue nicht, sie geheiratet zu haben. Aber wenn ich gewusst hätte, wie – wie es – wie Rosalind werden würde, dann hätte ich sie bei Gott persönlich auf
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