Grabeskaelte
Eintrag, Henning fiel Coras damals noch kindliche Handschrift auf, stammte aus dem Jahre 1976. Unbeschwert, in einer, dem Alter einer Vierzehnjährigen entsprechenden Weise, schrieb sie von ihrem Alltag, der Schule und den Jungs. Henning überflog die ersten Eintragungen. Cora, das fiel ihm schon nach wenigen Seiten auf, schrieb sporadisch. Manchmal lagen Monate zwischen den einzelnen Aufzeichnungen. Henning blätterte weiter. Er suchte nach Niederschriften aus den Sommermonaten des Jahres 1978, dem Zeitraum, in dem Kirstin starb. Unter dem Datum 13. Juli 1978 fand er dann endlich, was er suchte: Liebes Tagebuch!
Heute ist einer der schwärzesten Tage in meinem Leben! K. ist tot! Sie wurde letzte Nacht ermordet, erwürgt! Frau M. unsere Klassenlehrerin setzte uns heute Morgen davon in Kenntnis. In der Stadt wimmelt es von Polizisten, die nach ihrem Mörder suchen. Ich kann es einfach nicht glauben, dass meine beste Freundin nicht mehr am Leben sein soll! Mit ihr konnte ich über alles sprechen. Ich habe sie akzeptiert wie sie war, habe die verachtet, die sich hinter ihrem Rücken das Maul über sie zerrissen, nur weil sie gleich mit jedem ins Bett ging. Wir haben uns oft darüber unterhalten. K. wusste, dass ich ihre lockere Art nicht immer gut fand, aber dennoch war sie die beste Freundin für mich, die ich je hatte. Sie war spontan und großzügig. Wahrscheinlich habe ich sie so gemocht, weil sie genau das Gegenteil von mir darstellte. Und nun ist sie tot. Oh mein Gott, sie fehlt mir schon jetzt ganz schrecklich! Hoffentlich findet die Polizei wenigstens schnell ihren Mörder. Vielleicht war es ja einer von den Kerlen, mit denen sie sich abgab.
An der Stelle brach die Eintragung ab. Einige der Worte waren verwischt, so als ob Wassertropfen darauf gefallen wären. Henning vermutete, dass es sich dabei um Coras Tränen handelte. Nachdenklich blickte er ins Leere. Wie es aussah, kannte Cora Kirstins Mörder also doch nicht. Die ganze Zeit über war er genau davon ausgegangen und nun das. Sollte sich Rüdigers Verdacht in Hinblick auf Ralph als Täter am Ende doch bestätigen?
Henning blätterte zur nächsten Seite um und las weiter. Dort beschrieb Cora ausführlich, was sie empfand: Trauer, Wut, Hass. Sie fühlte sich von aller Welt verlassen. Ihre Mutter hatte kein Verständnis für sie. Sie war vielmehr froh, dass Cora Kirstins schlechtem Einfluss entzogen war. Grenzenlos einsam und verloren kam sie sich in diesen Tagen vor und genau diese Gefühle beschrieb sie anschaulich. Womöglich war das für sie die einzige Art, das albtraumhafte Geschehen zu verarbeiten. Auf der letzten Seite des ersten Tagebuches angekommen, war Henning noch immer nicht viel schlauer als zu Beginn.
All seine Hoffnungen ruhten nunmehr auf dem zweiten Teil.
Erwartungsvoll schlug er das in flaschengrünes Lackleder gebundene Buch auf. Schon nach wenigen Seiten fand er, was er suchte. Cora beschrieb, wie sie Kirstins Mörder durch puren Zufall auf die Schliche kam. Zum ersten Mal fiel Henning dabei aber noch etwas anderes auf, dem er bisher kaum Beachtung geschenkt hatte: Cora erwähnte keinerlei Namen. Von der ersten Seite an beließ sie es beim Anfangsbuchstaben der betreffenden Person. Bislang hatte Henning diesen Kürzeln keine Bedeutung beigemessen. Doch nun erwähnte Cora erstmals R. Aus dem was sie schrieb, zeichnete sich immer deutlicher ab, dass es sich bei ihm um Kirstins Mörder handelte. Ralphs Name, schoss es Henning durch den Kopf, könnte für eben jenes ominöse R. stehen. Doch genauso gut konnte R. auf Roman schließen lassen. Erstmals fiel ihm in diesem Zusammenhang auf, dass die Vornamen der beiden Männer mit demselben Anfangsbuchstaben begannen. Das komplizierte die Sache. Von dem, was Cora schrieb, ließen sich anfangs noch keinerlei Rückschlüsse ziehen. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als weiter zulesen. Wort für Wort lüftete er Coras schreckliches Geheimnis. Am Ende wusste er unzweifelhaft, wer sich hinter R. verbarg. Henning war erschüttert. Eine menschliche Tragödie steckte hinter dem, was er erfahren hatte.
Erneut versuchte er Senta zu erreichen. Doch auch diesmal nahm sie nicht ab. Henning beschlich ein ungutes Gefühl. Instinktiv spürte er, dass sie sich in großer Gefahr befand. Rüdiger war zu weit weg, um ihm im Augenblick zu assistieren. Seine Kollegen fielen ihm ein. Doch wenn er sie jetzt einschaltete, dann würde er eine ausführliche Erklärung liefern müssen. Das hielt ihn von diesem
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