Grabesstille
Fährte seiner Beute auf der schneebedeckten Erde. Er sucht nach Spuren oder hockt in seinem Ansitz und wartet, bis der Bär aus dem Unterholz trottet. Nie kommt er auf die Idee, dass seine Beute ihn beobachten könnte, dass sie geduldig wartet, bis er einen Fehler macht.
Der Jäger, der sich jetzt an mich heranpirscht, würde kaum etwas sehen, wovor er sich fürchten muss. Mein Äußeres ist das einer Frau mittleren Alters mit grauen Strähnen im Haar, meine Schritte gehemmt von Müdigkeit und dem Gewicht der Tüten, die ich schleppe, prallvoll mit Lebensmitteln für eine Woche. Ich gehe dieselbe Strecke wie jeden Dienstagabend. Nach dem Einkauf auf dem chinesischen Markt in der Beach Street biege ich rechts in die Tyler ein und wende mich nach Süden, zu den ruhigen Straßen von Tai Wung Village, wo ich wohne. Ich halte den Kopf gesenkt, lasse die Schultern hängen, sodass jeder, der mich sieht, sofort denkt: Diese Frau ist ein geborenes Opfer. Keine, die sich zur Wehr setzen wird. Niemand, den man fürchten muss.
Aber inzwischen weiß mein Gegenspieler, dass er auf der Hut sein muss, genau, wie ich vor ihm auf der Hut bin. Bis jetzt haben wir uns nur aus der Deckung heraus bekämpft, sind nie direkt aufeinandergetroffen, außer in Gestalt seiner Stellvertreter. Wir sind zwei Jäger, die einander ständig umkreisen, und er muss den nächsten Schritt tun. Erst dann, wenn er aus dem Dunkel ans Licht tritt, werde ich sein Gesicht kennen.
Und so gehe ich die Tyler Street entlang, wie schon so viele Male zuvor, und ich frage mich, ob es heute Abend so weit ist. Noch nie habe ich mich so verwundbar gefühlt, und ich weiß, dass sich jeden Moment der Vorhang zum nächsten Akt heben wird. Ich lasse die hellen Lichter der Beach Street und der Kneeland Street hinter mir, gehe durch unbeleuchtete Gassen, vorbei an dunklen Hauseingängen, und meine Plastiktüten rascheln bei jedem Schritt. Nur eine müde alte Witwe, die mit sich selbst beschäftigt ist. Aber ich nehme jedes Detail um mich herum wahr, von dem feinen Nieselregen auf meinem Gesicht bis zum Duft von Koriander und Zwiebeln, der aus meinen Tüten aufsteigt. Niemand begleitet mich. Keine Leibwächter umringen mich. Heute Abend bin ich allein, schutzlos dem ersten Pfeil ausgesetzt, der geflogen kommt.
Als ich mich meiner Wohnung nähere, sehe ich, dass die Lampe über der Haustür dunkel ist. Sabotage – oder nur eine durchgebrannte Glühbirne? Meine Nerven vibrieren in banger Vorahnung, und mein Herzschlag beschleunigt sich, pumpt das Blut in die Muskeln, die sich schon in Erwartung des Kampfes anspannen. Dann entdecke ich den Wagen, der vor dem Haus parkt, ich sehe den Mann, der aussteigt, um mich zu begrüßen, und ich lasse die Luft in einem erleichterten und zugleich genervten Seufzer entweichen.
»Mrs. Fang?«, sagt Detective Frost. »Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Ich bleibe vor den Eingangsstufen zu meinem Haus stehen, mit den schweren Einkaufstüten in den Händen, und starre ihn an, ohne zu lächeln. »Ich bin sehr müde heute Abend. Und ich habe nichts weiter zu sagen.«
»Darf ich Ihnen dann wenigstens tragen helfen?«, erbietet er sich, und ehe ich protestieren kann, schnappt er sich die Einkaufstüten und trägt sie die Stufen zur Haustür hinauf. Dort wartet er darauf, dass ich aufschließe. Er schaut so ernsthaft drein, dass ich es nicht über mich bringe, sein Angebot abzulehnen.
Ich sperre die Tür auf und lasse ihn eintreten.
Nachdem ich das Licht eingeschaltet habe, trägt er die Tüten in die Küche und stellt sie auf der Arbeitsfläche ab. Er steht da mit den Händen in den Hosentaschen und sieht zu, wie ich pikante Kräuter und frisches Gemüse in den Kühlschrank lege, wie ich Speiseöl, Küchentücher und Dosen mit Hühnerbrühe in die Schränke räume.
»Ich möchte mich entschuldigen«, sagt er. »Und Ihnen etwas erklären.«
»Erklären?«, frage ich in einem Ton, als ob es mich eigentlich überhaupt nicht interessierte, was er zu sagen hat.
»Wegen des Säbels, und warum wir ihn mitnehmen mussten. Bei einer Mordermittlung müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wir müssen jeder Spur nachgehen. Die Waffe, nach der wir gesucht haben, ist ein sehr alter Säbel, und ich wusste, dass Sie einen besitzen.«
Ich klappe die Tür des Vorratsschranks zu und drehe mich zu ihm um. »Inzwischen müssen Sie doch Ihren Fehler bemerkt haben.«
Er nickt. »Sie werden den Säbel zurückbekommen.«
»Und wann wird Bella auf freien
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