Grabesstille
Bühne gestanden. Es gab mindestens zweihundert Zeugen.«
»Das werden wir überprüfen. In der Zwischenzeit haben Sie Gelegenheit, Ihren Anwalt anzurufen, falls Sie es wünschen.«
»Sie verhaften mich?« Bella schnellte vor, eine so abrupte Bewegung, dass Jane zusammenzuckte – sie wusste schließlich ganz genau, wie schnell und tödlich diese junge Frau zuschlagen konnte. »Das«, sagte Bella leise, »ist ein sehr schwerer Fehler .« In Bellas Augen schien sich etwas zu regen, als ob in ihren dunklen Tiefen irgendeine Kreatur erwachte.
»Sagen Sie uns, warum es ein Fehler ist, dann denken wir vielleicht noch einmal darüber nach«, erwiderte Jane.
Bella atmete tief durch, und jemand anderes schien von ihr Besitz zu ergreifen, schien sie aus Augen, so kalt wie polierte Steine, anzustarren. »Ich habe nichts mehr zu sagen.«
Bellas Wohnung war sauber. Viel zu sauber. Jane stand im Wohnzimmer und blickte auf einen Teppich hinunter, der – wie die parallelen Streifen verrieten – erst vor Kurzem gesaugt worden war.
»So haben wir es hier vorgefunden«, sagte Tam. »Küche und Bad sind blitzblank geputzt. Nicht mal ein Fetzen Papier in den Abfalleimern. Es ist, als ob hier niemand wohnt. Entweder hat sie einen schweren Putzfimmel, oder sie wollte Spuren vernichten.«
»Woher wusste sie, dass wir kommen würden?«
»Wer ins Präsidium des Boston PD bestellt wird, kann sich normalerweise denken, dass er unter Verdacht steht. Es muss ihr klar gewesen sein, dass wir hier auftauchen würden.«
Jane trat ans Fenster und sah durch die makellos saubere Scheibe auf die Straße hinunter, wo zwei ältere Frauen untergehakt den Gehsteig entlangtrippelten. Es war ruhig in dieser Ecke von Tai Tung Village am südlichen Ende von Chinatown. Iris Fangs Wohnung war gleich um die Ecke, nur wenige Minuten Fußweg entfernt. Dieses Viertel war wirklich eine Welt für sich, und Jane kam sich hier vor wie auf einem anderen Stern. Das Gefühl wurde noch verstärkt durch die Blicke der Nachbarn, durch ihr nervöses Getuschel. Mit ihrer Dienstmarke und der Autorität, die sie ihr verlieh, war Jane überall, wo sie auftauchte, die Fremde. Und von einem Fremden wusste man nie, ob er als Freund oder als Feind kam.
Sie wandte sich vom Fenster ab und ging ins Bad, wo Frost vor dem Unterschrank kniete und dessen Inhalt inspizierte. »Nichts«, sagte er und richtete sich auf. Sein Gesicht war vom Bücken rot angelaufen. »Nicht ein einziges Haar in der Dusche oder im Waschbecken. Im Badeschrank habe ich nur Aspirin und eine Rolle elastische Binden gefunden. Es ist, als ob hier gar niemand wohnt.«
»Sind wir denn sicher, dass sie hier wohnt?«
»Tam hat mit dem Nachbarn von nebenan gesprochen. Ein alter Herr in den Achtzigern. Er sagt, er sieht sie so gut wie nie, aber er hört immer wieder mal Stimmen hier drin.« Frost klopfte an die Wand. »Die sind ziemlich dünn.«
»Stimmen – also Plural?«
»Könnte der Fernseher sein. Sie lebt allein.«
Jane sah sich in dem makellosen Badezimmer um. »Wenn sie überhaupt hier wohnt.«
»Irgendjemand zahlt die Miete.«
»Und anscheinend ist hier auch irgendjemand mit Putzmittel und Staubsauger zu Werke gegangen.«
»Das mit dem Staubsauger ist merkwürdig – wir haben nämlich gar keinen gefunden, also können wir auch den Beutel nicht nach Spuren durchsuchen.«
Jane ging weiter ins Schlafzimmer, wo sie auf Tam stieß, der gerade telefonierte. Er nickte, als Jane den Raum betrat. Der Holzboden war sauber gewischt; Bettlaken und Decke waren zurückgeschlagen, sodass die Matratze freilag. Jane kniete sich vor das Bett und sah darunter nach – der Boden unter dem Lattenrost war genauso staubfrei wie im restlichen Zimmer. Plötzlich tauchte ein Paar Schuhe in ihrem Gesichtsfeld auf, und als Jane sich hochstemmte, sah sie einen Kriminaltechniker auf der anderen Seite des Betts stehen.
»Wir haben keine Waffe gefunden«, meldete er. »Es sei denn, Sie zählen die Küchenmesser mit.«
»So etwas Ähnliches wie ein Schwert haben Sie nicht gefunden?«
»Nein, Ma’am. Wir haben alle Schränke und Schubladen durchsucht. Wir haben auch die Möbel von der Wand weggerückt und dahinter nachgeschaut.« Er hielt inne und ließ den Blick über die kahlen Wände schweifen. »Ich vermute, dass sie noch nicht lange hier wohnt. Nicht lange genug, um sich häuslich eingerichtet zu haben.«
»Falls sie überhaupt vorhatte, länger zu bleiben.«
»Allzu viel zum Anziehen hat sie auch nicht
Weitere Kostenlose Bücher