Grabesstille
Sie haben an einer der besten Schulen der Welt gelernt, in Taiwan.« Jane klatschte eine Aktenmappe auf den Tisch. »Das sind die Aufzeichnungen über Ihre Reisen in den letzten fünf Jahren.«
»Über mich gibt es eine Akte?«
»Jetzt ja.«
Bella schlug die Mappe auf und blätterte sie mit gespieltem Desinteresse durch. »Dann habe ich eben ab und zu das Land verlassen. Genießen wir hier in Amerika nicht Reisefreiheit?«
»Nicht viele amerikanische Bürger verbringen fünf Jahre in einem taiwanesischen Kloster, um eine uralte Kunst wie Wushu zu erlernen.«
»Jeder nach seinem Geschmack.«
»Und jetzt kommt das wirklich Interessante. Finanziert wurde das Ganze von Mrs. Fang. Sie ist keine reiche Frau, und dennoch hat sie Ihnen diese jahrelange Ausbildung ermöglicht. Hat Ihre Flüge bezahlt, Ihre Unterrichtsgebühren. Warum?«
»Sie hatte mein Talent erkannt.«
»Wann hat sie das erkannt?«
»Ich war siebzehn und lebte auf der Straße, als sie mich gefunden hat. Sie hat mir den Staub aus den Klamotten geklopft und mich aufgenommen – vielleicht, weil ich sie an ihre Tochter erinnerte.«
»Ist es das, was Sie hier in Boston tun? Für sie die Ersatztochter mimen?«
»Ich unterrichte in ihrem Studio. Wir praktizieren den gleichen Kampfkunststil. Und wir teilen dieselbe Philosophie.«
»Und welche Philosophie, wenn ich fragen darf?«
Bella sah ihr in die Augen. »Dass Gerechtigkeit etwas ist, wofür wir alle verantwortlich sind.«
»Gerechtigkeit? Oder Rache?«
»Manche würden sagen, dass Rache nur ein anderes Wort für Gerechtigkeit ist.«
Jane starrte Bella an, versuchte, sie zu durchschauen. Sie musste herausfinden, ob dies dasselbe Wesen war, das ihr in der Passage das Leben gerettet hatte, das auf dem Dach der Lagerhalle gehockt hatte. Bella war ein Wesen aus Fleisch und Blut wie jede andere Vierundzwanzigjährige, doch sie war ganz bestimmt nicht gewöhnlich. Wenn Jane in diese Augen blickte, sah sie etwas Fremdartiges, Wildes. Einen animalischen Geist, der sie plötzlich zurückweichen ließ, der ihr ein Frösteln über die Haut jagte. Als ob sie in diesen Augen etwas gesehen hätte, das nicht ganz menschlich war.
Frost brach das Schweigen. »Miss Li, es wird Zeit, dass Sie uns die Wahrheit sagen.«
Bella bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick. »Was war denn nicht wahr an dem, was ich gesagt habe?«
»Ihre Antwort auf die Frage, warum Iris Fang gerade Sie auserwählt hat.«
»Sie hätte auch irgendwen sonst nehmen können.«
»Das hat sie aber nicht. Sie ist eigens nach San Francisco geflogen, um eine ganz bestimmte Siebzehnjährige zu finden, deren Mutter gerade gestorben war. Ein Mädchen, das von ihrer Pflegefamilie davongelaufen war und auf der Straße lebte. Was war an Ihnen so besonders?«
Als Bella keine Antwort gab, sagte Jane: »Wir haben Ihre Schulunterlagen aus Kalifornien. Darin steht nichts über den Einwandererstatus Ihrer Mutter.«
»Meine Mutter ist tot. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«
»Sie war eine illegale Einwanderin.«
»Beweisen Sie es.«
»Was ist mit Ihnen, Bella?«
»Ich habe einen amerikanischen Pass.«
»In dem steht, dass Sie im Staat Massachusetts geboren wurden. Sechs Jahre später sind Sie an einer öffentlichen Schule in San Francisco gemeldet. Ihre Mutter arbeitet als Zimmermädchen in einem Hotel, mit einer falschen Sozialversicherungsnummer. Warum sind Sie dorthin umgezogen? Warum haben Sie beide so plötzlich Ihre Zelte hier abgebrochen und sind nach Kalifornien geflüchtet?« Jane beugte sich so weit vor, dass sie ihr eigenes Spiegelbild in diesen abgrundtiefen Augen sehen konnte. »Ich habe einen ziemlich starken Verdacht, wer Sie in Wirklichkeit sind. Ich kann es nur noch nicht beweisen. Aber ich werde es beweisen, glauben Sie mir.« Sie sah zu Frost. »Zeig ihr den Durchsuchungsbeschluss.«
Bella runzelte die Stirn. »Durchsuchungsbeschluss?«
»Er gestattet uns, Ihre Wohnung zu betreten«, sagte Frost. »Detective Tam ist bereits mit einem Suchteam vor Ort.«
»Was glauben Sie denn, was Sie da finden werden?«
»Beweise, die Sie mit dem Tod einer unbekannten weiblichen Person am Abend des fünfzehnten April sowie mit dem Tod einer unbekannten männlichen Person am Abend des einundzwanzigsten April in Verbindung bringen.«
Bella schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber für den fünfzehnten April habe ich ein felsenfestes Alibi. Da habe ich bei einer Wushu-Vorführung in Chinatown auf der
Weitere Kostenlose Bücher