Grabesstille
dass wir alle die Karten auf den Tisch legen.«
Bella wirkte an diesem Tag noch feindseliger, die Hände zu Fäusten geballt, ihr Blick hart wie Diamanten. »Es ist Ihre Schuld, dass das passiert ist«, sagte sie. »Ich hätte dort sein sollen. Ich hätte das verhindert.«
Jane blickte in diese funkelnden Augen, und plötzlich sah sie vor ihrem inneren Auge diese junge Frau wie eine Wildkatze aufspringen und sie mit Zähnen und Krallen attackieren. Doch sie hielt ihre Stimme ruhig, als sie sagte: »Sie wussten also, dass so etwas passieren würde? Sie wussten, dass man Iris entführen würde?«
»Wir vergeuden hier nur unsere Zeit! Sie braucht mich.«
»Wie wollen Sie ihr helfen, wenn Sie nicht einmal wissen, wo sie ist?«
Bella machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch dann ging ihr Blick zum Einwegspiegel, als sei ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie ein Publikum hatte.
»Warum fangen wir nicht ganz von vorn an, Bella?«, sagte Jane. »Nämlich damit, wer Sie wirklich sind. Ich meine nicht den Namen, den Sie sich in Kalifornien zugelegt haben, sondern den, mit dem Sie geboren wurden.« Jane legte die Fotokopie einer Geburtsurkunde auf den Tisch. »Die ist von einem Arzt aus Chinatown unterschrieben. Sie wurden hier in Boston geboren. Eine Hausgeburt, in einer Wohnung in der Knapp Street. Der Name Ihres Vaters war Wu Weimin.«
Bella gab keine Antwort, doch Jane konnte das Eingeständnis an ihren Augen ablesen. Nicht, dass sie es gebraucht hätte; das Dokument war lediglich Beweisstück Nummer eins. Jane legte weitere Kopien auf den Tisch: die Unterlagen der öffentlichen Schulen in San Francisco, wo das Mädchen unter dem Namen Bella Li angemeldet worden war. Die Sterbeurkunde ihrer Mutter, die den Namen Annie Li geführt hatte, gestorben mit dreiundvierzig Jahren an Magenkrebs. Hier stand alles schwarz auf weiß, in diesen Dokumenten, die Janes Team in den vergangenen achtundvierzig Stunden in hartnäckiger Kleinarbeit zusammengetragen hatte – eine Papierspur, die in jenen Tagen vor dem 11. September durch wechselnde Zuständigkeiten verwischt worden war. Die Schattenwelt, in der illegale Einwanderer sich bewegten, hatte die Ermittlungen zusätzlich erschwert – eine Welt, in der eine alleinstehende Mutter und ihr Kind allzu leicht untertauchen und mit neuen Namen anderswo wieder auftauchen konnten.
»Warum sind Sie nach Boston zurückgekehrt?«, fragte Jane.
Bella sah ihr in die Augen. »Sifu Fang bat mich zu kommen. Sie ist eine kranke Frau, und sie brauchte eine weitere Lehrerin für ihre Schule.«
»Ja, das ist die Geschichte, die Sie mir immer wieder auftischen.«
»Gibt es noch eine andere?«
»Es hat nicht etwa mit dem zu tun, was im Red Phoenix passiert ist? Damit, dass Ihr Vater vier Menschen erschossen hat?«
Bellas Züge spannten sich an. »Mein Vater war unschuldig.«
»Nicht laut dem offiziellen Polizeibericht.«
»Und offizielle Polizeiberichte irren ja nie .«
»Wenn der Bericht falsch ist, was ist dann die Wahrheit?«
Bella funkelte sie an. »Er wurde ermordet.«
»Hat Ihre Mutter Ihnen das erzählt?«
»Meine Mutter war nicht dabei!«
Jane hielt inne, als ihr der unausgesprochene Sinn dieser letzten Worte aufging – meine Mutter war nicht dabei. Sie erinnerte sich an das Leuchten des Luminols auf der Kellertreppe, an den blutigen Abdruck eines Kinderschuhs. »Aber jemand war dabei«, sagte Jane leise. »Jemand, der sich im Keller versteckt hatte, als es passierte.«
Bella erstarrte. »Wie haben Sie das …«
»Das Blut hat es uns verraten. Auch wenn Sie versuchen, es wegzuwischen, die Spuren bleiben. Noch Jahrzehnte später können wir sie mit einem chemischen Spray sichtbar machen. Wir haben Ihre Fußabdrücke auf der Kellertreppe gefunden und auf dem Küchenboden – sie führten zum Hinterausgang. Als die Polizei an jenem Abend eintraf, hatte jemand diese Fußspuren schon entfernt.« Jane beugte sich vor. »Warum hat Ihre Mutter das getan? Warum hat sie versucht, die Spuren zu vernichten?«
Bella gab keine Antwort, doch Jane sah den inneren Konflikt auf ihrer Miene widergespiegelt – den Kampf zwischen dem Wunsch, die Wahrheit zu sagen, und der Entschlossenheit, ihr Geheimnis zu wahren.
»Sie hat es getan, um Sie zu schützen, habe ich recht?«, sagte Jane. »Weil Sie gesehen hatten, was passiert war, und Ihre Mutter deshalb Angst um Sie hatte. Angst, dass jemand Ihnen etwas antun könnte.«
Bella schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht gesehen.«
»Sie
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