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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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mitgebracht.«
    Jane öffnete den Kleiderschrank und sah nicht mehr als ein Dutzend Teile an der Stange hängen, alle in Größe XXS . Drei schwarze Hosen, ein paar dunkle Pullover und Blusen und ein ärmelloses Sommerkleid aus weicher, pfirsichfarbener Seide. Es war die Garderobe einer Frau, die sich nur kurz irgendwo aufhielt und offensichtlich vorhatte, bald wieder abzureisen. Einer jungen Frau, die ihnen nach wie vor ein Rätsel war. Jane starrte das Kleid an, versuchte, sich Bella Li in einem so femininen, verführerischen Teil vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen sah sie nur die wild funkelnden Augen der jungen Frau und ihre schwarze Igelfrisur.
    »Schlechte Nachrichten«, sagte Tam und hielt sein Handy hoch. »Ihr Alibi für den fünfzehnten April ist wasserdicht. Ich habe gerade mit der Programmkoordinatorin des Kulturzentrums gesprochen. An dem Abend hatten sie dort eine Kampfkunst-Demonstration. Bella Li ist zusammen mit acht Schülerinnen und Schülern der Dragon and Stars Academy aufgetreten.«
    »Um wie viel Uhr war das?«
    »Die Gruppe traf um achtzehn Uhr ein, aß etwas und ging gegen einundzwanzig Uhr auf die Bühne. Sie waren den ganzen Abend dort.« Er schüttelte den Kopf. »Wir können ihr nichts nachweisen.«
    »Aber für den einundzwanzigsten April hat sie kein Alibi.«
    »Das ist kein Grund, sie festzuhalten.«
    »Dann finden wir eben einen Grund, verdammt noch mal.«
    »Warum?« Tam sah sie so forschend an, dass ihr ganz unbehaglich wurde.
    Sie drehte sich zum Kleiderschrank um, wich seinem Blick aus. »Irgendetwas an ihr lässt bei mir die Alarmglocken läuten. Ich weiß , dass sie in die Sache verwickelt ist, aber ich weiß nicht, wie.«
    »Alles, was wir haben, ist ein Überwachungsvideo, auf dem eine weibliche Gestalt zu sehen ist. Es könnte sie sein, aber es könnte auch jemand anderes sein. Wir haben keine Tatwaffe. Und wir haben auch kein Beweismaterial.«
    »Ja, weil sie die ganze Wohnung vor unserem Eintreffen mit literweise Reinigungsmittel geschrubbt hat.«
    »Was bleibt uns also außer Ihrem Bauchgefühl?«
    »Das hat mir schon öfter gute Dienste geleistet.« Sie griff in den Schrank und durchsuchte mit ihrer behandschuhten Hand die Taschen der Kleidungsstücke, obwohl sie selbst nicht recht wusste, wonach sie suchte. Doch außer etwas Kleingeld, einem Knopf und einem zusammengefalteten Papiertaschentuch förderte sie nichts zutage.
    »Tam hat recht, Rizzoli«, sagte Frost, der in der Tür aufgetaucht war. »Wir müssen sie gehen lassen.«
    »Nicht, solange ich nicht mehr über sie weiß. Wer sie wirklich ist«, erwiderte Jane.
    »Wir stochern doch nur im Dunkeln.«
    »Dann müssen wir eben endlich die nötigen Beweise finden. Irgendwo muss es doch die entscheidende Spur geben.« Sie ging zum Schlafzimmerfenster und sah auf eine Gasse hinunter. Der Schieberahmen war nicht verschlossen, das Fenster ein Stück weit hochgeschoben, um frische Luft hereinzulassen. Direkt davor war ein Absatz der Feuertreppe, und das Fenster war nicht mit einem Fliegengitter versehen. Jede andere weibliche Bewohnerin wäre angesichts dieser Sicherheitsmängel nervös geworden, doch Bella Li kannte keine Furcht; sie schritt beherzt durchs Leben, stets zum Kampf bereit. Schreckte sie jemals mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch, wenn sie ein Geräusch am Fenster hörte, wenn irgendwo in der Wohnung die Dielen knarrten? Oder schlief sie auch wie eine Kriegerin, furchtlos selbst in ihren Träumen?
    Jane wandte sich vom Fenster ab und erstarrte plötzlich, den Blick auf den Vorhang geheftet. Der Stoff war ein knitterfreier Polyester-Mix, bedruckt mit beigefarbenen Bambusstangen vor einem grünen Wald. Auf diesem bunten Hintergrund war der silberfarbene Strich fast nicht zu erkennen. Nur aus einem bestimmten Winkel, wenn das Licht der Deckenlampe schräg auf die Oberfläche des Stoffs fiel, konnte Jane das Haar sehen, das daran klebte.
    Sie zog einen Beweismittelbeutel aus der Tasche. Kaum wagte sie zu atmen, als sie das Haar vorsichtig vom Vorhang abzupfte und es in den Beutel fallen ließ. Sie hielt ihn gegen das Licht und starrte durch die transparente Plastikhülle auf den einzelnen silbrigen Faden. Dann ging ihr Blick zum Fenster – und zu der Feuertreppe direkt dahinter.
    Es war hier. Das Phantom ist hier in diesem Zimmer gewesen.

32
    Nur selten merkt es der Jäger, wenn er selbst zum Gejagten wird. Er streift durch den Wald, das Gewehr in der Hand, und hält Ausschau nach der

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