Grabesstille
Fuß gesetzt?«
»Das ist etwas komplizierter. Wir sind noch dabei, ihre Vorgeschichte zu überprüfen. Ich dachte mir, dass Sie uns dabei vielleicht helfen könnten, da Sie sie ja gut kennen.«
Ich schüttle den Kopf. »Unser letztes Gespräch, Detective, endete damit, dass man mich als Tatverdächtige behandelt und mein Familienerbstück konfisziert hat.«
»Ich habe nie gewollt, dass es so kommt.«
»Aber Sie sind nun einmal zuallererst Polizist.«
»Was würden Sie von mir anderes erwarten?«
»Ich weiß nicht. Dass Sie ein Freund sind?«
Das gibt ihm zu denken. Er steht unter der grellen Küchenlampe, die ihn älter aussehen lässt, als er ist. Gleichwohl ist er ein junger Mann – jung genug, um mein Sohn zu sein. Ich will gar nicht daran denken, wie alt mein Gesicht in diesem unvorteilhaften Neonlicht aussehen muss.
»Ich wäre ja gerne Ihr Freund, Iris«, sagt er. »Wenn nur …«
»Wenn ich nur nicht verdächtig wäre.«
»Für mich sind Sie das nicht.«
»Dann machen Sie Ihren Job nicht richtig. Ich könnte die Mörderin sein, nach der Sie suchen. Können Sie sich das nicht bildlich vorstellen, Detective? Die ältliche Dame, die ihr Schwert schwingt, die auf Dächern herumspringt und ihre Feinde niedermäht?« Ich lache ihm ins Gesicht, und er errötet, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. »Vielleicht sollten Sie mein Haus durchsuchen. Es könnte ja noch ein Schwert hier irgendwo versteckt sein, eine Waffe, von der Sie gar nicht wissen, dass ich sie besitze.«
»Iris, bitte.«
»Vielleicht wollen Sie Ihren Kollegen berichten, dass die Verdächtige sich neuerdings feindselig verhält? Dass sie sich nicht mehr so leicht um den Finger wickeln und sich Informationen aus der Nase ziehen lässt.«
»Deswegen bin ich nicht hier! An dem Abend, als wir zusammen essen gegangen sind, habe ich nicht versucht, Sie auszuhorchen.«
»Was haben Sie denn versucht?«
»Sie zu verstehen, das ist alles. Herauszufinden, wer Sie sind, was Sie denken.«
»Warum?«
»Weil Sie und ich – Weil …« Er seufzt schwer. »Ich hatte das Gefühl, dass wir beide einen Freund brauchten. Ich weiß jedenfalls, dass es mir so geht.«
Ich betrachte ihn einen Moment. Er sieht mich nicht an, sein Blick ist auf einen Punkt irgendwo hinter mir gerichtet, als könnte er sich nicht dazu bringen, mir in die Augen zu schauen. Nicht, weil er unaufrichtig ist, sondern weil er sich eine Blöße gegeben hat. Er mag Polizist sein, doch er fürchtet sich vor meinem Urteil über ihn. Aber ich kann ihm nichts mehr geben, weder Trost noch Freundschaft, nicht einmal eine sanfte Berührung am Arm.
»Sie brauchen eine Freundin in Ihrem Alter, Detective Frost«, sage ich ruhig. »Nicht jemanden wie mich.«
»Ich sehe Ihr Alter gar nicht.«
»Ich schon. Und ich spüre es auch«, füge ich hinzu, während ich demonstrativ meinen verspannten Nacken massiere. »Und meine Krankheit.«
»Ich sehe eine Frau, die niemals alt sein wird.«
»Sagen Sie mir das in zwanzig Jahren noch einmal.«
Er lächelt. »Das werde ich vielleicht.«
Der Augenblick ist zum Bersten voll mit ungesagten Worten, mit Empfindungen, die uns beiden Unbehagen bereiten. Er ist ein guter Mann, das sehe ich in seinen Augen. Aber es ist absurd zu glauben, wir könnten jemals mehr als nur locker befreundet sein. Nicht, weil ich fast zwei Jahrzehnte älter bin als er, auch wenn das allein schon ein Hindernis ist. Nein, es ist wegen der Geheimnisse, die ich nie mit ihm teilen kann; Geheimnisse, die uns beide auf verschiedenen Seiten einer tiefen Kluft stehen lassen.
Als ich ihn zur Tür begleite, sagt er: »Morgen bringe ich Ihnen den Säbel zurück.«
»Und Bella?«
»Es ist gut möglich, dass sie morgen früh entlassen wird. Wir können sie nicht unbegrenzt festhalten, nicht ohne Beweise.«
»Sie hat nichts Falsches getan.«
In der Tür bleibt er stehen und sieht mich unverwandt an. »Es ist nicht immer so klar, was richtig und was falsch ist. Nicht wahr?«
Ich erwidere seinen Blick und denke: Ist es möglich, dass er etwas weiß? Gibt er mir seinen Segen für das, was ich zu tun im Begriff bin? Aber er lächelt nur – und geht.
Ich schließe die Tür hinter ihm ab. Das Gespräch hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht; ich habe Mühe, meine Gedanken zu ordnen. Was soll man von einem solchen Mann halten?, frage ich mich, als ich nach oben gehe, um mich umzuziehen. Wieder einmal erinnert er mich an meinen Mann. An seine Güte, seine Geduld. Seinen vorurteilsfreien
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