Grabesstille
waren dort.«
»Aber ich habe es nicht gesehen !«, schrie Bella. Ihr Wutausbruch schien eine Weile zwischen ihnen in der Luft zu hängen. Dann senkte sie den Kopf und flüsterte: »Aber ich habe es gehört.«
Jane fragte nicht nach, unterbrach Bella nicht, sondern wartete einfach auf die Geschichte, von der sie wusste, dass sie sich nun entfalten würde.
Bella holte noch einmal Luft. »Meine Mutter lag im Bett und schlief. Sie war immer so müde, nachdem sie den ganzen Tag im Lebensmittelgeschäft gearbeitet hatte. Und an diesem Abend war sie auch noch durch eine Grippe geschwächt.« Bella starrte die Tischplatte an, als sähe sie vor ihrem inneren Auge noch ihre Mutter, wie sie in Decken gehüllt in ihrem Bett lag. »Aber ich war nicht müde. Also bin ich aus dem Bett geklettert und nach unten gelaufen, um bei Daddy zu sein.«
»Im Restaurant.«
»Er war natürlich böse mit mir.« Ein trauriges Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Da stand er und hantierte hektisch mit seinen Töpfen und Pfannen. Und ich quengelte herum und wollte unbedingt ein Eis. Er sagte mir, ich solle wieder nach oben ins Bett gehen. Er hätte viel zu tun und keine Zeit für mich. Onkel Fang hatte auch keine Zeit für mich.«
»Iris’ Mann?«
Bella nickte. »Er war im Speisesaal. Ich schaute durch die Tür und sah ihn mit einem Mann und einer Frau an einem Tisch sitzen. Sie tranken Tee.«
Jane runzelte die Stirn. Warum hätte der Kellner bei zwei Gästen am Tisch sitzen sollen? Das passte zu dem anderen Rätsel um die Mallorys – der Frage, warum sie in einem chinesischen Restaurant gesessen hatten, wo sie doch, wie die Obduktionen zeigten, kurz zuvor italienisch gegessen hatten.
»Worüber haben sie gesprochen?«, fragte Jane. »Mr. Fang und die beiden Gäste?«
Bella schüttelte den Kopf. »Es war zu laut in der Küche, als dass man von den Gesprächen im Speisesaal irgendetwas verstanden hätte. Mein Vater klapperte mit seinen Pfannen, und der Dunstabzug lief.«
»Haben Sie gesehen, wie Joey Gilmore hereinkam, um seine Bestellung abzuholen?«
»Nein. Ich erinnere mich nur an meinen Vater, wie er am Herd stand und schuftete. Wie er schwitzte. Und an sein altes T-Shirt. Er hat immer in seinem T-Shirt gearbeitet …« Ihre Stimme wurde brüchig, und sie wischte sich mit der Hand über die Augen. »Mein armer Vater. Arbeiten, immer nur arbeiten. Seine Hände waren übersät mit Verbrennungen und Schnittwunden, die er sich in der Küche geholt hatte.«
»Was ist dann passiert?«
Bellas Mund formte sich zu einem reumütigen Lächeln. »Ich wollte ein Eis. Ich plärrte und forderte seine Aufmerksamkeit, während er versuchte, das Essen in die Mitnahmekartons zu füllen. Schließlich gab er nach und sagte, ich solle runtergehen und mir ein Eis aus der Tiefkühltruhe aussuchen.«
»Im Keller?«
Sie nickte. »Oh, ich kannte diesen Keller sehr gut. Ich war schon so oft dort unten gewesen. Ganz hinten in der Ecke stand eine große Tiefkühltruhe. Ich musste auf einen Stuhl steigen, um den Deckel hochheben zu können. Ich weiß noch, wie ich nach der Sorte gesucht habe, die ich wollte. Das Eis war in kleinen Pappbechern, in die nur je eine Kugel passte. Ich wollte die Sorte mit den Streifen von Schoko, Vanille und Erdbeer. Aber so eins konnte ich nicht finden. Ich wühlte mit beiden Händen in diesem Berg von Eisbechern, aber es war alles Vanille. Nichts als Vanille.« Sie atmete tief durch. »Und dann hörte ich meinen Vater rufen.«
»Wen rief er?«
»Mich.« Bella blickte auf und blinzelte die Tränen weg. »Er rief mir zu, ich solle mich verstecken.«
»Das müssen doch alle im Restaurant gehört haben.«
»Er sagte es auf Chinesisch. Der Mörder hat ihn nicht verstanden, sonst wäre er mich suchen gekommen. Er hätte gewusst, dass ich im Keller war.«
Jane blickte zum Einwegspiegel. Sie konnte Frost und Tam nicht sehen, doch sie konnte sich ihre verblüfften Gesichter lebhaft vorstellen. Das war das fehlende Kapitel der Geschichte. Die Spuren auf der Kellertreppe und auf dem Küchenboden hatten von Anfang an den entscheidenden Hinweis geliefert – doch Fußspuren sind stumm. Erst Bella gab ihnen eine Stimme.
»Und Sie haben sich versteckt?«, fragte Jane.
»Ich begriff nicht, was geschah. Ich stieg von meinem Stuhl und begann die Treppe hinaufzugehen, doch dann blieb ich stehen. Ich hörte ihn um Gnade flehen. Er bettelte um sein Leben, in seinem gebrochenen Englisch. Da verstand ich, dass das kein Spiel war, kein
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