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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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plötzlich wirkte er viel älter als seine siebenundsechzig Jahre. »Dann lasse ich Sie allein«, sagte er. Schweigend ging er hinaus und zog die Schiebetür hinter sich zu.
    Jane schenkte sich Kaffee nach. Schlug das nächste Jahrbuch auf.
    Es war von Charlottes achtem Schuljahr, als sie dreizehn gewesen war und Mark sechzehn. Sein Wachstumsschub hatte schon eingesetzt, und das Foto zeigte einen kantigen Unterkiefer und breite Schultern. Charlotte hatte noch ein Kindergesicht, blass und zart. Jane blätterte den Abschnitt mit den Schulaktivitäten durch und suchte nach Fotos der zwei. Sie fand beide auf einem Gruppenfoto, das beim landesweiten »Wettstreit der Orchester« am 20. März in Lowell, Massachusetts entstanden war.
    Deborah Schiffer hatte in Lowell gelebt, und sie hatte Klavier gespielt.
    Jane starrte das Bild von Charlotte und ihren Mitmusikern an. Zwei Monate nach dieser Aufnahme war Deborah verschwunden.
    Janes Schädel brummte vor Aufregung und Koffein. Sie leerte ihre Kaffeetasse und schenkte sich noch eine ein. Dann suchte sie in dem Stapel nach Charlottes Jahrbuch aus dem neunten Schuljahr. Sie wusste bereits, was sie finden würde, als sie das Kapitel »Musik« aufschlug, die Seite mit dem Foto von acht Schülerinnen und Schülern, die mit ihren Instrumenten posierten. Darunter stand: Boltons Beste qualifizieren sich für Sommerworkshop des Bostoner Symphonieorchesters . Charlotte konnte sie auf dem Foto nicht sehen, dafür aber Mark Mallory. Inzwischen war er siebzehn, ein dunkler, attraktiver Typ, ein Junge, der jedem Mädchen den Kopf verdrehen konnte. In diesem Jahr war Laura Fang vierzehn geworden. Auch sie hatte am Orchesterworkshop in Boston teilgenommen. Hatte Laura sich vom guten Aussehen und vom Reichtum eines ganz bestimmten Jungen blenden lassen, eines Jungen, der ein Mädchen von Lauras bescheidener Herkunft gar nicht wahrnehmen würde?
    Oder hatte er Laura im Gegenteil sehr wohl wahrgenommen?
    Janes Kehle war wie ausgetrocknet, und das Brummen in ihrem Kopf wurde stärker. Sie nahm noch einen Schluck Kaffee und griff nach dem nächsten Band, Charlottes Jahrbuch aus der zehnten Klasse. Als sie es aufschlug, schienen die Buchstaben verwischt, die Gesichter verschwommen. Sie rieb sich die Augen und blätterte weiter zu den Aktivitäten. Da war Charlotte wieder im Orchester zu sehen, mit ihrer Bratsche in der Hand. Aber Mark war inzwischen abgegangen, und ein anderer Junge stand an der Pauke.
    Jane schlug die Sportseiten auf. Wieder rieb sie sich die Augen, versuchte, den Nebel zu vertreiben, der ihre Sicht trübte. Sie sah das Foto nur verschwommen, trotzdem konnte sie Charlotte in der Reihe von Tennisspielerinnen ausmachen. Bolton-Team holt 2. Platz bei OktoberRegionalturnier .
    Patty Boles hat auch Tennis gespielt, dachte Jane. Wie Charlotte war sie damals in der zehnten Klasse gewesen. Hatte sie an diesem Regionalturnier teilgenommen? War sie dabei jemandem aufgefallen – jemandem, der keine Mühe gehabt hätte, herauszufinden, wer sie war und welche Schule sie besuchte?
    Sechs Wochen nach dem Turnier war Patty Boles verschwunden.
    Jane schüttelte ihren Kopf, doch der Nebel vor ihren Augen schien nur noch dichter zu werden. Da stimmt doch etwas nicht.
    Das ferne Schrillen eines Telefons drang durch das Rauschen in ihren Ohren. Sie hörte Patrick sprechen. Verzweifelt versuchte sie, um Hilfe zu rufen, doch es kam kein Ton heraus.
    Mühsam stemmte sie sich hoch, hörte, wie der Stuhl umkippte und polternd auf dem Boden aufschlug. Sie hatte kein Gefühl mehr in den Beinen, sie waren wie hölzerne Stelzen, taub und schwerfällig. Sie wankte zur Schiebetür, fürchtete schon zusammenzubrechen, ehe sie dort ankäme, sodass Patrick sie zu ihrer Schande lang ausgestreckt am Boden finden würde. Als sie nach der Klinke greifen wollte, schien diese zurückzuweichen, schien ihre Anstrengungen zu verhöhnen, immer ein paar Zentimeter von ihren Fingerspitzen entfernt.
    Sie torkelte gerade auf die Tür zu, als diese von der anderen Seite geöffnet wurde und Patrick vor ihr stand.
    »Helfen Sie mir«, flüsterte sie.
    Doch er rührte sich nicht. Er stand nur da und beobachtete sie mit kalter, teilnahmsloser Miene. Da erst wurde ihr klar, was für einen Fehler sie gemacht hatte. Es war ihr letzter Gedanke, ehe sie bewusstlos zu seinen Füßen zusammenbrach.

36
    Sie hatte Durst, solchen Durst. Jane versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war ausgedörrt, ihre Zunge klebte am Gaumen, trocken wie

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