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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sie sich die Zähne anschlug. Sie rollte sich auf die unverletzte Seite, die Knie in der Embryonalstellung angezogen, und kämpfte gegen die Tränen an, die Schmerz und Frust ihr in die Augen trieben. Wie sollte sie das schaffen? Sie konnte ja nicht einmal zur Tür gelangen, geschweige denn sich aufrichten, um an die Schlüssel zu gelangen.
    »Sie haben eine Tochter«, sagte Iris leise.
    »Ja.«
    »Denken Sie an sie. Denken Sie daran, was Sie alles tun würden, um sie wieder im Arm halten zu können. Um ihre Haare riechen und ihr Gesicht berühren zu können. Denken Sie daran. Stellen Sie es sich vor. «
    Diese geflüsterte Anweisung schien von irgendwo in ihrem eigenen Kopf zu kommen, als wäre es ihre eigene Stimme, die sie zum Handeln aufforderte. Sie dachte an Regina, wie sie in der Badewanne saß, mit Schaum auf dem Kopf und nach Seife duftend, mit ihren dunklen Löckchen, die feucht an der rosigen Haut klebten. Regina, die zu einer jungen Frau heranwachsen würde, für die ihre Mutter irgendwann nur noch eine blasse Erinnerung wäre, nur ein Geist, dessen Züge sich in ihrem eigenen Gesicht spiegelten. Und sie dachte an Gabriel, der langsam alt und grau würde. Ein ganzes gemeinsames Leben, das uns genommen wird, wenn ich diese Nacht nicht überlebe.
    »Denken Sie an sie.« Iris’ Stimme drang durch die Dunkelheit. »Sie wird Ihnen die Kraft geben, die Sie brauchen, um zu kämpfen .«
    »Haben Sie so die ganzen Jahre durchgehalten?«
    »Es war alles, was ich hatte. Die Hoffnung, dass meine Tochter zu mir zurückkehren könnte, hat mich am Leben erhalten. Dafür habe ich gelebt, Detective. Ich habe für den Tag gelebt, an dem ich sie wiedersehen würde. Oder, sollte das nie geschehen, für den Tag, an dem ich der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen würde. Wenigstens werde ich wissen, dass ich bis zum Schluss dafür gekämpft habe.«
    Jane wälzte sich noch einmal herum, und ihre lädierte Hüfte prallte auf den Boden, ihr Gesicht schrammte über rauen Beton. Plötzlich stieß sie mit dem Rücken gegen eine Wand und blieb schwer atmend auf der Seite liegen, ruhte sich einen Moment lang aus vor dem nächsten, dem schwierigsten Teil des Unterfangens. »Ich bin jetzt an der Wand«, sagte sie.
    »Stehen Sie auf. Die Tür ist am anderen Ende.«
    An die Wand gestützt, versuchte Jane, sich in eine kniende Position zu manövrieren, doch sie verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber, schlug mit dem Mund voll auf den Boden. Der jähe Schmerz strahlte von ihren Zähnen in den ganzen Schädel aus.
    »Ihre Tochter«, sagte Iris. »Wie heißt sie?«
    Jane leckte sich die Lippe und schmeckte Blut. Schon spürte sie, wie das weiche Gewebe anschwoll. »Regina«, sagte sie.
    »Wie alt ist sie?«
    »Zweieinhalb.«
    »Und Sie lieben sie sehr.«
    »Natürlich liebe ich sie.« Ächzend rappelte Jane sich wieder hoch. Sie wusste, was Iris da tat; schon spürte sie neue Kraft in ihren Muskeln, eine neue Festigkeit in ihrem Rückgrat. Nein, sie würde sich nicht von ihrer Tochter trennen lassen. Sie würde diese Nacht überleben, so wie Iris die vergangenen zwei Jahrzehnte überlebt hatte, weil für eine Mutter nichts wichtiger war, als ihr Kind wiederzusehen. Sie kämpfte gegen die Schwerkraft an, spannte Rücken und Nacken an, um sich auf die Knie hochzustemmen.
    »Regina«, sagte Iris. »Sie ist das Blut in Ihren Adern. Die Luft in Ihrer Lunge.« Ihre Stimme war hypnotisierend, ihre Worte eine geflüsterte Beschwörung, die eine belebende Wärme durch Janes Glieder strömen ließ. Worte, gesprochen in der universellen Sprache, die jede Mutter versteht.
    Sie ist das Blut in deinen Adern. Die Luft in deiner Lunge.
    Steh auf, dachte Jane. Hol dir die Schlüssel.
    Im Knien holte sie Schwung, indem sie den Oberkörper vorbeugte, spannte die Muskeln an und sprang. Sie landete auf den Füßen, konnte sich aber nur ein paar Sekunden lang halten, ehe sie das Gleichgewicht verlor, nach vorn kippte und mit den Knien auf den Beton krachte.
    »Noch einmal«, befahl Iris. Keine Spur von Mitgefühl in ihrer Stimme. Ging sie auch mit ihren Schülern so schonungslos um? Wurden so echte Krieger geschmiedet, indem man sie ohne Gnade an ihre Grenzen und darüber hinaus trieb?
    »Die Schlüssel«, sagte Iris.
    Jane holte tief Luft, spannte sich an und sprang auf. Wieder landete sie auf den Füßen, wieder schwankte sie, doch die Wand war direkt neben ihr. Sie lehnte sich mit der Schulter an, während sie wartete, bis der Krampf in ihrer Wade sich

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