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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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diese Batterie wieder einsetzen und das Ding einschalten. Und dann muss ich nur noch abwarten, wer hier auftaucht.«
    Er geht hinaus. Ich höre, wie die Tür ins Schloss fällt und schwere Schritte die Treppe hinaufstapfen.
    Jetzt bin ich mit meinem Kummer allein, und er nagt an mir mit so scharfen Zähnen, dass ich schreie und wild an meinen Fesseln zerre, bis sie meine Haut aufschürfen.
    Er hat meine Tochter entführt. Er hatte sie in seiner Gewalt.
    Ich erinnere mich an die Nächte nach Lauras Verschwinden, als mein Mann und ich uns aneinanderklammerten, als keiner auszusprechen wagte, was wir beide dachten. Was, wenn sie tot ist? Jetzt wird mir klar, dass es noch eine weit schlimmere Alternative gab – etwas, was wir uns einfach nicht vorstellen konnten: dass sie noch am Leben war. Dass in diesen zwei Monaten, als James und ich die Hoffnung nach und nach fahren ließen und uns in unser Schicksal ergaben, unsere Laura immer noch atmete. Immer noch litt.
    Ich sinke erschöpft zurück, und meine Schreie verebben zu einem Wimmern. Nachdem die rasende Verzweiflung sich gelegt hat, bin ich wie betäubt. Ich lehne mich an die Betonwand und versuche, das, was er mir gerade gesagt hat, in Einklang zu bringen mit dem, was ich bereits weiß: nämlich, dass zwei Jahre nach dem Verschwinden meiner Tochter mein Mann und vier andere Menschen im Restaurant Red Phoenix niedergemetzelt wurden.
    Wie hängen diese beiden Ereignisse zusammen? Was ist es, das sie verbindet? Diese Erklärung hat er mir bis jetzt vorenthalten.
    Angestrengt versuche ich, mich an seine Worte zu erinnern, stochere im Nebel nach Hinweisen. Da fällt mir ein bestimmter Satz wieder ein, und die Worte lassen augenblicklich das Blut in meinen Adern gefrieren.
    Sie hat sieben oder acht Wochen durchgehalten. Länger als die anderen.
    Ich hebe den Kopf, als die Erkenntnis mich durchzuckt. Die anderen.
    Meine Tochter war nicht die Einzige.

35
    Was hat Detective Ingersoll gewusst, und warum musste er deswegen sterben?
    Das waren die Fragen, über denen Jane unentwegt brütete, als sie bis in den späten Nachmittag an ihrem Schreibtisch saß und ihre Notizen zum Mord an Ingersoll durchging. Sie hatte die Tatortfotos aus seiner Wohnung vor sich ausgebreitet, die Berichte von Ballistik und Spurensicherung, die Verbindungsdaten für sein Handy und seinen Festnetzanschluss und schließlich seine Kreditkartenabrechnungen. Laut Donohue war schon vor Wochen ein Kopfgeld auf Ingersoll ausgesetzt worden, genau zu der Zeit, als er begonnen hatte, Fragen nach vermissten Mädchen zu stellen. Es waren alles alte Fälle, die von Polizeidienststellen in ganz Massachusetts längst als ungelöst zu den Akten gelegt worden waren. Sie starrte auf ein Foto von Ingersolls Leiche und dachte: Welches Monster hast du aus seinem Schlaf geweckt?
    Und was haben vermisste Mädchen mit dem Red Phoenix zu tun?
    Sie griff nach den Akten dieser vermissten Mädchen. Die Fakten zum Verschwinden von Laura und Charlotte waren ihr inzwischen bestens vertraut, also konzentrierte sie sich auf die drei anderen Fälle. Alle Opfer waren hübsch und zierlich gebaut. Alle waren gute bis sehr gute Schülerinnen. Alle waren Multitalente.
    Patty Boles und Sherry Tanaka waren bei Tennisturnieren angetreten. Deborah Schiffer und Patty Boles hatten an Kunstausstellungen teilgenommen. Deborah Schiffer spielte im Schulorchester Klavier. Aber die drei Mädchen hatten einander nicht gekannt, jedenfalls nicht nach Aussage ihrer Eltern. Und sie waren zum Zeitpunkt ihres Verschwindens unterschiedlich alt gewesen. Sherry Tanaka war sechzehn, Deborah Schiffer dreizehn und Patty Boles fünfzehn. Eine ging auf die Mittelschule, zwei auf die Highschool.
    Jane dachte eine Weile darüber nach. Sie erinnerte sich, dass Laura Fang vierzehn gewesen war, als sie verschwand.
    Sie schrieb die Reihenfolge, in der die Mädchen verschwunden waren, auf einen Zettel.
    Deborah Schiffer, 13.
    Laura Fang, 14.
    Patty Boles, 15.
    Sherry Tanaka, 16.
    Charlotte Dion, 17.
    Es war, als hätte man einen Royal Flush vor sich. Jedes Jahr ein anderes Mädchen, jedes Mal ein bisschen älter. Als ob der Geschmack des Kidnappers mit der Zeit gereift wäre.
    Sie griff nach der Mappe mit den letzten Fotos von Charlotte, die bei der Trauerfeier für ihre Mutter und ihren Stiefvater entstanden waren. Wieder blätterte sie die Sequenz durch, die der Fotograf des Boston Globe aufgenommen hatte. Charlotte, eine bleiche und magere Erscheinung in ihrem schwarzen

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