Grabesstille
Kleid, umringt von Trauergästen. Charlotte, wie sie zum Rand der Menschenmenge davonwankt, während ihr Stiefbruder Mark Mallory ihr nachstarrt. Dann das Foto, auf dem Charlotte und Mark fehlten und nur ihr Vater Patrick zu sehen war, der offensichtlich rätselte, wohin die beiden verschwunden waren. Schließlich kam sie zum letzten Bild, auf dem sie wieder auftauchten: Charlotte und Mark, der hinter ihr hereilte. Groß und breitschultrig – es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, seine Stiefschwester zu überwältigen.
Jedes Jahr ein älteres Mädchen.
Die dreizehnjährige Deborah Schiffer war ein Jahr nach der Hochzeit von Dina und Arthur Mallory verschwunden. Ein Jahr, nachdem die beiden eine neue Familie gegründet hatten, eine Patchwork-Familie, mit all den gemeinsamen Aktivitäten, die das mit sich brachte. Elternsprechtage, Orchesteraufführungen, Tennisturniere.
Wurden so die Opfer ausgewählt? Über Charlotte?
Jane griff zum Telefon und rief Patrick Dion an.
»Tut mir leid, dass ich Sie zur Abendessenszeit störe«, sagte sie. »Aber wäre es möglich, dass ich noch einmal einen Blick in Charlottes Schuljahrbücher werfe?«
»Sie können gerne jederzeit vorbeikommen. Haben Sie etwas Neues herausgefunden?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Wonach suchen Sie denn genau? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Ich habe viel über Charlotte nachgedacht. Darüber, ob sie der Schlüssel zu allem sein könnte.«
Sie hörte Patrick am anderen Ende betrübt aufseufzen. »Meine Tochter war immer schon der Schlüssel, Detective. Zu meinem Leben; zu allem, was mir je wichtig war. Nichts wünsche ich mir mehr, als zu erfahren, was mit ihr passiert ist.«
»Ich verstehe, Sir«, sagte Jane sanft. »Ich weiß, dass Sie die Antwort wissen wollen, und ich glaube, ich könnte sie Ihnen liefern.«
Er öffnete ihr die Tür, bekleidet mit einem schlabberigen Pullover, einer Freizeithose und Pantoffeln. Jane sah in Patricks verhärmtes Gesicht, sah die tiefen Falten, deren jede einzelne von altem Kummer sprach. Und jetzt kam sie daher und wühlte die furchtbaren Erinnerungen wieder auf. Sie fühlte sich deswegen schuldig, und als sie sich die Hand gaben, hielt sie seine etwas länger als notwendig, eine Berührung, die ihm zu verstehen geben sollte, dass es ihr leidtat. Dass sie ihn verstand.
Er nickte traurig und ging voran ins Esszimmer, wobei er mit seinen Pantoffeln über den Holzboden schlurfte. »Ich habe Ihnen die Jahrbücher schon bereitgelegt«, sagte er und deutete auf die Stapel auf dem Tisch.
»Danke, ich trage sie nur rasch ins Auto, dann bin ich wieder weg.«
»Oje.« Er zog die Stirn kraus. »Wenn Sie nichts dagegen haben, wäre es mir lieber, wenn Sie sie nicht mitnehmen würden.«
»Ich verspreche Ihnen, dass ich sehr gut auf die Bücher aufpassen werde.«
»Das werden Sie sicher, aber …« Er legte eine Hand auf den Bücherstapel, als wollte er ein Kind segnen. »Das ist alles, was ich noch von meiner Tochter habe. Und Sie müssen verstehen, dass es mir sehr schwerfällt, irgendetwas davon aus der Hand zu geben. Ich habe Sorge, dass sie verloren gehen oder beschädigt werden könnten. Dass jemand sie aus Ihrem Wagen stehlen könnte. Oder Sie haben einen Unfall, und …« Er schüttelte reumütig den Kopf. »Das ist ganz furchtbar von mir, nicht wahr? Einem Stapel Bücher einen solchen Wert beizumessen, dass ich nur noch daran denke, was damit passieren könnte. Wo es doch nur ein Haufen Papier ist.«
»Für Sie haben die Bücher einen viel höheren Wert. Das verstehe ich.«
»Also würden Sie mir den Gefallen tun? Sie können es sich gerne hier bequem machen und so lange darin stöbern, wie Sie wollen. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wein vielleicht?«
»Danke, aber ich bin im Dienst. Und ich muss noch nach Hause fahren.«
»Dann einen Kaffee?«
Jane lächelte. »Das wäre wunderbar.«
Während Patrick in die Küche ging, um Kaffee zu kochen, nahm sie am Esszimmertisch Platz und breitete die Jahrbücher vor sich aus. Er hatte sie alle hervorgeholt, sogar die aus Charlottes Grundschulzeit. Die schob sie erst einmal beiseite und schlug den Band aus Charlottes erstem Jahr an der Bolton Academy auf, als sie in die siebte Klasse gegangen war. Das Foto zeigte ein zerbrechlich wirkendes blondes Mädchen mit einer Zahnspange. Die Bildunterschrift lautete: Charlotte Dion. Orchester, Tennis, Kunst . Jane blätterte weiter zu den älteren Schülern und fand Mark Mallorys Foto in dem Abschnitt,
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