Grabesstille
von neunzehn Jahren zurückblicke. »Ich weiß noch, dass sie vor nichts Angst hatte. Sie konnte keinen Augenblick still sitzen, musste immer herumrennen und -springen. Kleine Tigerin , so nannte ihr Vater sie. Wenn meine Tochter Laura vom Babysitten zurückkam, war sie immer völlig erschöpft. Sie sagte mir, sie wollte nie Kinder haben, wenn die so wild wären wie Mei Mei.«
»Ein intelligentes Mädchen?«
Ich sehe sie mit einem traurigen Lächeln an. »Haben Sie Kinder, Detective?«
»Ich habe eine zweijährige Tochter.«
»Und Sie denken wahrscheinlich, dass sie das klügste Kind ist, das je geboren wurde.«
Jetzt ist es an Rizzoli, zu lächeln. »Ich weiß, dass sie das ist.«
»Weil wir das von Kindern immer denken, nicht wahr? Die kleine Mei Mei war so hellwach, so neugierig …« Meine Stimme versagt, und ich schlucke krampfhaft. »Als sie verschwanden, war es, als würde ich meine Tochter noch einmal verlieren.«
»Wohin sind sie gegangen?«
Ich schüttle den Kopf. »Es gab da eine Cousine in Kalifornien, glaube ich. Li Hua war erst Mitte zwanzig und so wunderschön. Sie hat vielleicht wieder geheiratet. Möglich, dass sie einen anderen Namen angenommen hat.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wo sie jetzt ist?«
Ich zögere, gerade lange genug, um Zweifel in ihr aufkommen zu lassen. Sie soll sich fragen, ob ich wahrheitsgemäß geantwortet habe. Unsere Schachpartie geht weiter, jeder Zug gefolgt von einem Gegenzug.
»Nein«, antworte ich schließlich. »Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt.«
Es klopft an der Tür, und Bella betritt das Büro. Ihr Gesicht ist gerötet von der anstrengenden Trainingsstunde, die sie geleitet hat, und ihr kurzes schwarzes Haar steht in die Höhe, feucht vom Schweiß. Sie senkt den Kopf zu einer leichten Verbeugung.
»Sifu, die letzten Schüler für heute sind gerade gegangen. Brauchst du mich noch?«
»Warte einen Moment. Wir sind hier gleich fertig.«
Den beiden Detectives ist klar, dass sie von mir nichts mehr zu erwarten haben, und sie wenden sich zum Gehen. Auf dem Weg zur Tür bleibt Rizzoli kurz stehen und sieht Bella an. Es ist ein langer, grüblerischer Blick, und ich kann fast sehen, wie die Gedanken in ihrem Kopf sich überschlagen. Mei Mei war fünf Jahre alt, als sie verschwand. Wie alt ist diese junge Frau? Wäre es möglich? Aber Rizzoli sagt nichts, sondern nickt uns nur zum Abschied zu und verlässt das Studio.
Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen ist, sage ich zu Bella: »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Wissen sie Bescheid?«
»Sie sind der Wahrheit näher gekommen.« Ich atme tief ein, und es bereitet mir Sorgen, dass ich die neuerliche Müdigkeit nicht abschütteln kann, die mich jetzt zu Boden zieht. Ich kämpfe an zwei Fronten zugleich, und einer meiner beiden Feinde wütet in meinem Knochenmark. Ich weiß: Einer dieser Feinde wird mich mit Sicherheit umbringen.
Die Frage ist nur: Welcher der beiden wird mich zuerst besiegen?
25
Jetzt hatten sie es mit drei vermissten Mädchen zu tun.
Jane trank lauwarmen Kaffee und aß ein Hühnersalat-Sandwich, während sie den wachsenden Papierstapel auf ihrem Schreibtisch durchging. Da waren die Akten über die unbekannte Frau vom Dach, über das Massaker im Red Phoenix und über die Vermisstenfälle Laura Fang und Charlotte Dion. Und sie hatte eine neue Akte zu einem weiteren vermissten Mädchen angelegt: Mei Mei, die Tochter des Kochs, die zusammen mit ihrer Mutter vor neunzehn Jahren spurlos verschwunden war. Mei Mei müsste heute vierundzwanzig Jahre alt sein; vielleicht war sie verheiratet und hatte einen anderen Namen angenommen. Sie hatten keine Fotos von ihr, keine Fingerabdrücke, keinerlei Vorstellung von ihrem Aussehen. Möglicherweise lebte sie gar nicht mehr in den USA . Oder sie ist direkt vor unserer Nase und arbeitet als Kampfkunstlehrerin in einem Studio in Chinatown , dachte Jane, und vor ihrem inneren Auge sah sie die unbewegte Miene von Iris’ Assistentin Bella Li, deren Vergangenheit sie bereits durchleuchteten.
Von diesen drei Mädchen war nur Mei Mei mit einiger Wahrscheinlichkeit noch am Leben. Die beiden anderen waren ziemlich sicher tot.
Jane wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Laura Fang und Charlotte Dion zu – und der erstaunlichen Tatsache, dass es überhaupt eine Verbindung zwischen ihnen gab, trotz der Welten, die sie trennten. Charlotte war weiß und stammte aus einer reichen Familie. Laura war die Tochter chinesischer Einwanderer, die sich nur mit
Weitere Kostenlose Bücher