Grabesstille
einem Kind.«
»Aber das war vor neunzehn Jahren.«
»Blut hinterlässt auch nach vielen Jahren noch Spuren, Mrs. Fang«, erklärt Frost. Seine Stimme ist sanfter, die Stimme eines Freundes, der geduldig erläutert, was ich, wie er glaubt, nicht verstehe. »Mithilfe bestimmter Chemikalien können wir Blutspuren sichtbar machen. Und wir wissen, dass ein Kind aus dem Keller gekommen und in Wu Weimins Blut getreten ist, ehe es dann die Küche durch die Hintertür verließ.«
»Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Detective Ingersoll hat das nie erwähnt.«
»Weil er diese Fußabdrücke nicht gesehen hatte«, sagt Detective Rizzoli. »Als die Polizei am Abend der Tat eintraf, waren die Spuren schon verschwunden. Jemand hatte sie aufgewischt.« Sie rückt näher, so nahe, dass ich ihre Pupillen sehen kann, zwei schwarze Löcher inmitten der schokoladenbraunen Iris. »Wer könnte das getan haben, Mrs. Fang? Wer wollte die Tatsache vertuschen, dass ein Kind im Keller war?«
»Warum fragen Sie mich das? Ich war ja nicht einmal im Lande. Ich war zu Besuch bei meiner Familie in Taiwan, als es passierte.«
»Aber Sie kannten Wu Weimin und seine Frau. Sie sprechen Mandarin, genau wie sie. Das Kind im Keller war die Tochter der beiden, nicht wahr?« Sie zieht ein Notizbuch aus der Tasche und liest daraus vor. »Mei Mei, fünf Jahre alt.« Sie sieht mich an. »Was ist aus ihnen geworden, aus der Mutter und der Tochter?«
»Woher soll ich das wissen? Ich konnte erst drei Tage später einen Rückflug bekommen. Da waren sie schon verschwunden. Sie hatten ihre Kleider gepackt, ihr ganzes Hab und Gut. Ich habe keine Ahnung, wohin sie gegangen sind.«
»Warum sind sie geflohen? Vielleicht, weil die Frau eine Illegale war?«
Meine Kiefermuskeln verhärten sich, und ich starre sie erbost an. »Wundert es Sie, dass sie davongelaufen ist? Wenn ich eine Illegale wäre und Sie davon überzeugt wären, dass mein Mann gerade vier Menschen umgebracht hat, wie schnell würden Sie dann mir Handschellen anlegen und mich abschieben lassen? Das Mädchen mag hier geboren sein, aber Li Hua war es nicht. Sie wollte, dass ihre Tochter in Amerika aufwächst; kann man es ihr da verdenken, dass sie nichts mit der Polizei zu tun haben wollte? Dass sie untergetaucht ist?«
»Wenn sie diese Fußabdrücke weggewischt hat, dann hat sie wichtige Beweise vernichtet.«
»Vielleicht hat sie es getan, um ihre Tochter zu schützen.«
»Das Mädchen war eine Zeugin. Sie hätte die Ermittlungen in eine andere Richtung lenken können.«
»Und würden Sie wirklich eine Fünfjährige in den Zeugenstand setzen und vor Gericht aussagen lassen? Meinen Sie, die Geschworenen würden dem Kind illegaler Einwanderer Glauben schenken, nachdem die ganze Stadt bereits entschieden hat, dass der Vater ein Ungeheuer war?«
Meine Antwort bringt sie aus dem Konzept. Sie schweigt, während sie über die Logik meiner Ausführungen nachdenkt. Während ihr klar wird, dass Li Huas Handlungsweise in Wirklichkeit vernünftig war. Es war die Logik einer Mutter, die alles tat, um ihr Kind vor Behörden zu schützen, denen sie nicht vertraute.
Mit sanfter Stimme sagt Frost: »Wir sind nicht der Feind, Mrs. Fang. Wir versuchen einfach nur, die Wahrheit herauszufinden.«
»Ich habe vor neunzehn Jahren die Wahrheit gesagt«, entgegne ich. »Ich habe der Polizei gesagt, dass Wu Weimin keiner Fliege etwas zuleide tun würde, aber das war es nicht, was sie hören wollten. Für sie war es viel einfacher zu glauben, dass er ein verrückter Chinese war – und wen interessiert es schon, was im Kopf eines Chinesen vor sich geht?« Ich höre die Verbitterung in meiner eigenen Stimme, doch ich unternehme keinen Versuch, sie zu unterdrücken. Die Worte sprudeln aus mir heraus, harsch und unverblümt. »Nach der Wahrheit zu suchen, ist viel zu mühsam. So hat die Polizei damals gedacht.«
»Ich denke nicht so«, bemerkt Frost ruhig.
Ich erwidere seinen Blick und sehe die Aufrichtigkeit in seinen Augen. Nebenan ist die Trainingsstunde zu Ende, und ich höre, wie die Schüler den Saal verlassen, höre immer wieder das Zischen, mit dem die Tür sich schließt.
»Wenn Mei Mei in diesem Keller war«, sagt Detective Rizzoli, »dann müssen wir sie finden. Wir müssen wissen, woran sie sich erinnert.«
»Und Sie würden ihr glauben?«
»Das hängt davon ab, was für ein Mädchen sie ist. Was können Sie mir über sie sagen?«
Ich denke eine Weile über die Frage nach, während ich durch den Nebel
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