Grabesstille
Mühe durchschlugen. Charlotte war in einer Villa in Brookline aufgewachsen, Laura in einer beengten Wohnung in Chinatown. Zwei so verschiedene Mädchen, und doch hatten beide einen Elternteil bei der Schießerei im Restaurant verloren, und jetzt lagen ihre Akten nebeneinander auf einem Schreibtisch im Morddezernat – ein Ort, wo niemand gerne enden würde. Während Jane ihre Akten durchblätterte, gingen ihr die letzten Worte durch den Kopf, die Ingersoll zu ihr gesagt hatte: Es geht darum, was mit diesen Mädchen passiert ist.
Waren das die Mädchen, die er gemeint hatte?
Patrick Dions Anwesen wirkte auf Jane nicht minder beeindruckend als bei ihrem ersten Besuch.
Sie fuhr zwischen den beiden Steinsäulen hindurch auf die Privatstraße, vorbei an Birken und Fliederbüschen und hinauf zu dem großen Haus im Kolonialstil, das auf einem Hügel inmitten weiter Rasenflächen thronte. Als sie in der Auffahrt hielt, trat Patrick aus der Haustür, um sie zu begrüßen.
»Danke, dass Sie sich noch einmal Zeit für mich nehmen«, sagte sie, während sie sich die Hand gaben.
»Gibt es etwas Neues über Charlotte?«, fragte er, und es tat weh, die Hoffnung in seinen Augen zu sehen, das Zittern in seiner Stimme zu hören.
»Es tut mir leid, wenn ich mich nicht klar ausgedrückt habe, was den Grund meines Besuchs betrifft«, sagte sie. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nichts Neues berichten.«
»Aber Sie sagten doch am Telefon, dass Sie mit mir über Charlotte sprechen wollten.«
»Ja, aber im Zusammenhang mit unserer laufenden Ermittlung. Es geht um den Mord in Chinatown.«
»Was hat das mit meiner Tochter zu tun?«
»Das weiß ich nicht genau, Mr. Dion. Aber uns liegen inzwischen bestimmte Erkenntnisse vor, die mich vermuten lassen, dass Charlottes Verschwinden mit dem Fall eines anderen vermissten Mädchens in Zusammenhang steht.«
»Dieser Spur ist Detective Buckholz doch schon vor Jahren nachgegangen.«
»Ich möchte es trotzdem noch einmal überprüfen. Auch wenn es neunzehn Jahre her ist; ich werde nicht zulassen, dass Ihre Tochter vergessen wird. Das hat Charlotte nicht verdient.«
Sie sah ihn ein paar Tränen wegblinzeln, und sie wusste, dass der Verlust ihn noch schmerzte wie am ersten Tag. Eltern vergessen niemals.
Mit einem müden Nicken sagte er: »Kommen Sie herein. Ich habe ihre Sachen vom Dachboden heruntergeholt, wie Sie es gewünscht haben. Bitte nehmen Sie sich so viel Zeit damit, wie Sie brauchen.«
Sie folgte ihm in die Eingangshalle und bestaunte aufs Neue die glänzenden Parkettböden und die Ölporträts, die aussahen, als wären sie alle mindestens zweihundert Jahre alt. Unwillkürlich musste sie dieses Haus mit Kevin Donohues Villa vergleichen, mit ihren geschmacklosen Möbeln und der Kunst von der Stange. Der Kontrast zwischen altem und neuem Geld hätte nicht deutlicher sein können. Patrick führte sie in das Speisezimmer, wo hohe Bogenfenster den Blick auf einen Seerosenteich freigaben. Auf dem Esstisch aus Palisander, der einem Dutzend Gästen Platz bot, standen verschiedene Pappkartons.
»Das ist alles, was ich aufgehoben habe«, sagte er mit trauriger Stimme. »Die meisten ihrer Kleider habe ich irgendwann gespendet. Ich denke, das war in Charlottes Sinn. Solche Dinge lagen ihr immer am Herzen – Lebensmittel für die Armen, Wohnungen für Bedürftige.« Er sah sich im Zimmer um und lachte sarkastisch. »Sie denken wahrscheinlich, dass sich das ziemlich heuchlerisch anhört, nicht wahr? So etwas aus dem Mund eines Mannes, der in einem solchen Haus lebt, auf einem solchen Anwesen. Aber meine Tochter hatte wirklich ein gutes Herz. Ein großzügiges Herz.« Er griff in einen der Kartons und zog eine zerschlissene Bluejeans heraus, die er anstarrte, als sähe er sie immer noch an den schmalen Hüften seiner Tochter sitzen. »Komisch, aber ich habe es nie übers Herz gebracht, die hier wegzugeben. Bluejeans kommen nie aus der Mode. Wenn sie je zurückkommt, wird sie sich darüber freuen, da bin ich sicher.« Behutsam legte er die Hose in den Karton zurück und seufzte tief.
»Es tut mir so leid, Mr. Dion, dass ich diesen ganzen Kummer in Ihnen wieder aufwühle. Wäre es leichter für Sie, wenn ich die Kartons allein durchsehen würde?«
»Nein, ich muss Ihnen doch alles erklären. Sie würden sonst bei einigen Dingen nicht wissen, was sie bedeuten.« Er griff in eine andere Kiste und entnahm ihr ein Fotoalbum. Einen Moment lang hielt er es an die Brust gepresst, als wollte er sich
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