Grabesstille
selbst hatte Rats Zweifel geteilt. Nachdem er in sein Internat zurückgekehrt war und sie in einem Haus zurückgelassen hatte, das ihr plötzlich bedrückend still und leer vorkam, hatte sie viele Stunden damit zugebracht, die ganzen Berichte und Fotos aus den Red-Phoenix-Akten zu studieren. Die verwirrenden Details, die der Junge so prompt erkannt hatte, beunruhigten sie selbst mehr und mehr.
»Bringen wir’s hinter uns, dann können wir alle nach Hause fahren«, sagte Jane. Sie klang erschöpft und auch ein wenig verärgert.
Wieder ging das Licht aus, und Maura stand da, die Hände zu Fäusten geballt, froh, dass im Dunkeln niemand ihr Gesicht sehen konnte. Sie hörte, wie die Flasche aufs Neue ihren Luminol-Nebel versprühte.
Plötzlich stieß Ed hervor: »He, seht ihr das auch?«
»Licht an!«, rief Jane, und Frost knipste die Lampe an.
Im grellen Schein standen sie alle einen Moment schweigend da und starrten auf den kahlen Betonboden.
»Das war auf den Tatortfotos nicht zu sehen«, sagte Tam.
Ed runzelte die Stirn. »Moment, ich spule den Film noch mal zurück«, sagte er. Während sich alle um die Kamera scharten, ließ er die Aufnahme noch einmal von vorn laufen. In der Dunkelheit tauchten drei bläuliche Flecken auf, die in einer Reihe zum Hinterausgang führten. Zwei waren verschmiert und unregelmäßig geformt, doch bei dem dritten handelte es sich unverkennbar um einen winzigen Fußabdruck.
»Vielleicht stehen diese Spuren gar nicht in Zusammenhang mit der Schießerei«, meinte Jane. »Diese Flecken könnten sich über Jahre hinweg angesammelt haben.«
» Zwei blutige Zwischenfälle in ein und derselben Küche?«, fragte Tam.
»Wie wollen wir die Tatsache erklären, dass diese Fußabdrücke auf keinem der Tatortfotos auftauchen?«
»Weil jemand sie aufgewischt hat«, sagte Maura leise. »Bevor die Polizei eintraf.« Und doch sind diese Spuren noch vorhanden, dachte sie. Für das menschliche Auge nicht zu erkennen – außer mit Luminol.
Den anderen schien das, was sich da eben gezeigt hatte, die Sprache verschlagen zu haben. Ein Kind war in dieser Küche gewesen, ein Kind, das in das Blut getreten war und eine Spur hinterlassen hatte, die zur Hintertür hinaus auf die Gasse führte.
»Der Keller«, sagte Jane. Sie ging auf die Kellertür zu und riss sie auf. Während Maura neben sie trat, leuchtete Jane mit ihrer Taschenlampe die Holztreppe hinunter. Aus der Dunkelheit stieg ein Geruch nach feuchten Steinen und Schimmel auf. Im Lichtkegel der Lampe erblickte Maura große Fässer und riesige Dosen mit Speiseöl, alles sicherlich verdorben, nachdem es fast zwei Jahrzehnte hier gelagert hatte.
»Der Koch ist hier gestorben; er hat mit seinem Körper die Tür blockiert«, sagte Jane. Sie drehte sich zu Ed um. »Sehen wir uns mal die obersten Stufen an.«
Diesmal gab es keine ungeduldigen Blicke, niemand seufzte oder sah auf seine Uhr. Rasch brachten die Kriminaltechniker das Stativ in Stellung und richteten die Kamera auf die Kellertreppe aus. Alle rückten näher, als das Licht ausging und Ed ein letztes Mal Luminol aus der Flasche sprühte. Jetzt erst sahen sie, dass Blut aus der Küche über die Türschwelle gelaufen und auf die oberste Stufe getropft war.
Eine Stufe, auf der sie den Abdruck einer kleinen Schuhsohle erkennen konnten.
24
»Jemand war an diesem Abend im Vorratskeller, Mrs. Fang. Ein Kind, das möglicherweise weiß, was wirklich passiert ist«, sagt Detective Rizzoli. »Wissen Sie, wer dieses Kind war?«
Die Polizistin beobachtet mich, lauert auf meine Reaktion, während ich verarbeite, was sie soeben gesagt hat. Durch die geschlossene Tür kann ich das scharfe Klacken der Stäbe und die rhythmischen Rufe meiner Schüler bei ihren Kampfübungen hören. Aber hier in meinem Büro herrscht Stille, während ich die möglichen Antworten abwäge. Schon mein Schweigen ist eine Reaktion, und Detective Rizzoli versucht herauszufinden, was es bedeutet. Doch ich lasse nicht zu, dass meine Miene irgendeine Gefühlsregung verrät. Das hier ist zu einer Art Schachspiel zwischen uns beiden geworden, einem Spiel innerhalb des Spiels, von dessen raffinierten Manövern Detective Frost, der ebenfalls dabeisteht und zuschaut, wahrscheinlich gar nichts ahnt.
Die Frau ist meine wahre Widersacherin. Ich sehe ihr unverwandt in die Augen, als ich erwidere: »Woher wissen Sie, dass jemand im Keller war?«
»In der Küche wurden Fußspuren gefunden und auch auf der Kellertreppe. Sie stammen von
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