Grabesstille
schnell; ich glaube, wir waren alle ziemlich vor den Kopf gestoßen. Wir hatten die Mallorys erst ein Jahr zuvor kennengelernt, als sowohl Charlotte als auch Mark beim Weihnachtskonzert der Bolton Academy auftraten. Ein Jahr später waren wir alle wieder zu Weihnachten in Bolton, aber da hatte Dina mich schon wegen Arthur verlassen. Und ich war plötzlich alleinerziehender Vater einer Tochter.«
»Charlotte ist nach der Scheidung bei Ihnen geblieben?«
»Ich habe mit Dina darüber gesprochen, und wir hielten es beide für das Beste, wenn ich das Sorgerecht bekäme, sodass Charlotte in dem Haus bleiben konnte, in dem sie aufgewachsen war. Charlotte sollte alle paar Monate ein Wochenende bei Dina und Arthur verbringen, aber sie reisten so viel, dass sie kaum einmal zu Hause waren.«
»Und es gab keinen Rechtsstreit, kein Tauziehen um Ihre Tochter?«
»Wenn zwei Menschen sich scheiden lassen, bedeutet das noch nicht, dass sie einander gleichgültig sind. Wir mochten uns immer noch. Und wir gehörten jetzt alle miteinander zu einer großen Familie. Nur Arthurs Exfrau, Barbara, hatte leider Probleme damit, die Scheidung zu akzeptieren, und sie blieb bis zum Schluss verbittert. Aber ich sah keinen Sinn darin, einen alten Groll mit mir herumzuschleppen. Wir sind schließlich zivilisierte Menschen.«
Das hatte auch Ingersoll in seinem Bericht geschrieben: dass das Verhältnis zwischen Patrick Dion und seiner Exfrau auch nach der Scheidung herzlich geblieben sei. Jetzt, da sie es aus Patricks eigenem Mund hörte, konnte sie es tatsächlich glauben.
»Sie haben sogar ihr letztes Weihnachtsfest hier bei mir verbracht«, sagte er. »Arthur, Dina und Mark. Wir saßen hier an diesem Tisch beisammen und haben gegessen. Und Geschenke ausgepackt.« Er blickte sich am Tisch um, als könnte er immer noch ihre Geister dort sitzen sehen. »Ich weiß noch, dass Charlotte dort gesessen hat, am Kopfende. Sie hat Mark nach Harvard gefragt, wollte wissen, ob es ihm dort gefiel. Dina schenkte ihr eine Perlenkette. Zum Nachtisch gab es Kürbiskuchen. Und hinterher bin ich mit Mark nach unten in meine Schreinerwerkstatt gegangen, weil er so gerne mit den Händen arbeitet. Ein Harvard-Student, der am liebsten schöne Möbel bauen würde.« Patrick blinzelte und sah Jane an, als wäre ihm gerade erst wieder eingefallen, dass sie da war. »Jetzt sind sie alle tot, und nur noch Mark und ich sind übrig.«
»Sie beide scheinen sich gut zu verstehen.«
»Oh, er ist ein prächtiger junger Mann.« Patrick hielt inne, und plötzlich lächelte er. »Mark ist schon neununddreißig, aber für jemanden in meinem Alter ist jeder ein junger Mann, der die vierzig noch nicht überschritten hat.«
Jane zog ein weiteres Buch aus dem Karton – diesmal kein Familienalbum, sondern ein Jahrbuch der Bolton Academy. Das Siegel der Schule war in Gold auf den rotbraunen Ledereinband geprägt.
»Da war sie in der zehnten Klasse«, sagte Patrick mit einem Blick auf den Einband. »Das war das Jahr, bevor sie …« Er brach ab, und seine Miene verfinsterte sich. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, die Schule wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht zu verklagen. Sie haben meine Tochter ohne angemessene Betreuung auf einen Ausflug mitgenommen. Sie waren schließlich an einem öffentlichen Ort, in der Faneuil Hall! Sie hätten damit rechnen müssen, dass einige der Schüler sich von der Gruppe entfernten oder dass ein Fremder sie ansprechen könnte. Aber die Lehrer haben einfach nicht aufgepasst, und plötzlich war mein Mädchen verschwunden. Und ich war auf der anderen Seite des Teichs und konnte nichts, aber auch gar nichts tun, um sie zu retten.«
»Soviel ich weiß, waren Sie damals in London?«
Er nickte. »Zu einem Meeting mit potenziellen Investoren, um mein verdammtes Vermögen noch zu mehren. Ich würde alles auf der Stelle hergeben, wenn ich nur …« Er stand unvermittelt auf. »Ich glaube, ich könnte jetzt einen Drink gebrauchen. Darf ich Ihnen auch ein Gläschen anbieten?«
»Danke, nein. Ich muss noch fahren.«
»Ah, die verantwortungsbewusste Polizistin. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagte er und verließ das Zimmer.
Jane schlug das Jahrbuch auf und blätterte, bis sie auf die Seiten stieß, die der zehnten Klasse gewidmet waren. Sie entdeckte Charlottes Foto in der untersten Reihe. Das blonde Haar fiel ihr lose über die Schultern, und ihre Lippen waren ganz leicht zu einem wehmütigen Lächeln verzogen. Sie war ein
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