Grabesstille
gar nicht davon trennen. Schließlich bot er es Jane mit beiden Händen dar wie eine kostbare Opfergabe, und sie nahm es mit ebensolcher Ehrfurcht entgegen. »Das ist es wahrscheinlich, was Sie sehen wollen.«
Sie schlug das Album auf. Auf der ersten Seite war das Foto einer jungen blonden Frau zu sehen, die ein rotgesichtiges Neugeborenes im Arm hielt. Das Baby war in eine weiße Decke eingewickelt wie eine winzige Mumie. Unsere Charlotte, 8 Stunden alt , stand in der extravaganten, verschlungenen Schreibschrift einer Frau unter dem Bild. Das also war Dina, als sie noch Patricks blutjunge Braut gewesen war. Bevor Arthur Mallory in ihr Leben getreten war und ihre Ehe zerstört hatte.
»Charlotte war Ihr einziges Kind?«, fragte Jane.
»Dina bestand darauf, dass wir nur eines haben sollten. Damals hatte ich damit kein Problem. Aber jetzt …«
Jetzt bedauert er es, dachte sie. Bedauert, dass er seine ganze Liebe und seine ganzen Hoffnungen auf ein Kind verschwendet hatte, das er eines Tages verlieren würde. Sie blätterte weiter und betrachtete weitere Fotos, die Charlotte als kleines Mädchen mit blauen Augen und blonden Haaren zeigten. Gelegentlich tauchte auch Dina auf, doch Patrick war auf keinem der Bilder zu sehen, außer bisweilen als flüchtiger Schatten am Bildrand, der die Kamera hielt. Jane kam zur letzten Seite des Albums, mit Fotos aus dem Jahr, als Charlotte vier geworden war.
Patrick reichte ihr den nächsten Band.
Im zweiten Album schienen die Jahre schneller zu vergehen; das Mädchen wuchs heran, schien sich alle paar Seiten zu verändern. In den ersten Jahren steht das Kind noch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, doch wenn die Elternschaft einmal den Reiz des Neuen verliert, tritt das Fotografieren in den Hintergrund, und die Kamera wird nur noch bei besonderen Anlässen hervorgeholt. Die Party zum fünften Geburtstag. Die erste Ballettvorführung. Ein Besuch in New York. Plötzlich war aus dem pausbäckigen kleinen Engel eine grimmig dreinblickende Jugendliche geworden, die in ihrer Schuluniform vor dem Eingang der Bolton Academy posierte.
»Auf diesem Foto ist sie zwölf Jahre alt«, erklärte Patrick. »Ich weiß noch, wie sie diese Uniform gehasst hat. In diesem karierten Stoff würde jedes Mädchen fett aussehen, meinte sie, und deswegen würde die Schule sie zwingen, sie zu tragen. Um die Mädchen hässlich aussehen zu lassen, weil sie dann keinen Ärger mit den Jungs bekämen.«
»Ist sie nicht gerne nach Bolton gegangen?«
»O doch, durchaus. Aber ich gebe zu, dass ich nicht gerade begeistert war, sie ziehen zu lassen. Es ist mir wirklich verdammt schwergefallen, mein kleines Mädchen ans Internat zu verlieren. Dina bestand darauf, weil es die Schule war, die sie selbst absolviert hatte – ein Ort, wo ein Mädchen die richtigen Leute kennenlernen konnte. So hat Dina es formuliert.« Er hielt inne. »Mein Gott, das hört sich jetzt wahrscheinlich total oberflächlich an, aber Dina waren solche Dinge nun einmal extrem wichtig. Dass Charlotte sich mit den richtigen Leuten anfreundete und den richtigen Mann heiratete.« Nach einer Pause fügte er ironisch hinzu: »Aber dann kam alles ganz anders, und es war Dina, die ihren künftigen Ehemann in Bolton kennenlernte.«
»Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein, als Dina Sie verließ.«
Patrick zuckte resigniert mit den Achseln. »Ich habe es akzeptiert. Was hätte ich sonst tun sollen? Und komischerweise habe ich Arthur Mallory sogar gemocht. Wie überhaupt die ganze Familie – Barbara und auch Mark, ihren Sohn. Das waren alles anständige Leute. Aber gegen die Hormone ist kein Kraut gewachsen. Ich glaube, ich habe meine Frau an Arthur verloren, als die beiden sich das erste Mal begegnet sind. Ich konnte nur danebenstehen und zusehen, wie meine Ehe in die Brüche ging.«
Jane schlug die letzte Seite auf und betrachtete das Bild, mit dem das Album schloss. Es war ein Hochzeitsfoto, und in der Mitte stand das frischgebackene Brautpaar, Dina und Arthur Mallory, beide in festlicher Garderobe. Flankiert wurden sie von ihren Kindern, Mark an der Seite seines Vaters, Charlotte an der ihrer Mutter. Während Bräutigam und Braut übers ganze Gesicht strahlten, wirkte Charlotte irgendwie benommen, als wüsste sie nicht recht, wie sie eigentlich dazu kam, neben diesen Leuten zu stehen.
»Wie alt ist Charlotte auf diesem Foto?«, fragte Jane.
»Da muss sie dreizehn gewesen sein.«
»Sie wirkt ein bisschen verloren.«
»Es ging alles so
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