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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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nachwachsen, die Blutergüsse auf ihrer Haut waren schon verblasst, doch als Medea ihre Tochter im gedämpften Licht des Schlafzimmers betrachtete, fand sie, dass Josephine so jung und verletzlich aussah wie ein Kind. Und tatsächlich war sie in manchen Dingen wieder wie ein Kind. Sie bestand darauf, dass das Licht in ihrem Zimmer die ganze Nacht brannte. Sie wollte nie länger als ein paar Stunden allein gelassen werden. Medea wusste, dass diese Ängste sich wieder legen würden, dass Josephine mit der Zeit ihren Mut wiederfinden würde. Vorerst lag die Kriegerin in ihr in einer Art Winterruhe, in einem Heilschlaf, doch sie würde wiederkehren. Medea kannte ihre Tochter ebenso gut wie sich selbst, und sie wusste, dass unter dieser so zerbrechlich wirkenden Hülle das Herz einer Löwin schlug.
    Medea wandte sich zu Nicholas Robinson um, der sie von der Schlafzimmertür aus beobachtete. Er hatte Josephine mit offenen Armen in seinem Haus aufgenommen, und Medea wusste, dass ihre Tochter hier sicher sein würde. Im Lauf der vergangenen Woche hatte sie diesen Mann kennengelernt, und sie hatte Vertrauen zu ihm gefasst. Er war vielleicht nicht besonders aufregend, vielleicht auch einen Tick zu pedantisch und verkopft, dennoch war er in mehr als nur einer Beziehung eine gute Partie für Josephine. Und er liebte sie hingebungsvoll. Mehr verlangte Medea nicht von einem Mann. In all den Jahren hatte sie nur wenigen Menschen vertraut, und in seinen Augen sah sie die gleiche unerschütterliche Loyalität, die sie einst in Gemma Hamertons Augen gesehen hatte. Gemma war für Josephine gestorben.
    Sie war überzeugt, dass Nicholas das Gleiche tun würde. Als sie sein Haus verließ, hörte sie, wie er hinter ihr die Tür verriegelte, und sie empfand die beruhigende Gewissheit, dass Josephine sich in guten Händen befand, was auch immer mit ihr selbst geschehen würde. Darauf konnte sie sich verlassen, wenn auch auf nichts sonst, und es gab ihr den Mut, in ihren Wagen zu steigen und sich auf den Weg nach Süden zu machen.
    Dort, in der Kleinstadt Milton, hatte sie ein Haus gemietet, das isoliert in einem großen, von Unkraut überwucherten Grundstück stand. Im Gebälk hausten Mäuse, die sie nachts im Bett hören konnte; doch die Geräusche, auf die sie lauschte, waren weit bedrohlicher als das Rascheln unsichtbarer Nager.
    Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, heute Abend dorthin zurückzukehren, doch sie setzte die Fahrt unbeirrt fort. Im Rückspiegel sah sie die Scheinwerfer eines Autos, das sie verfolgte.
    Es blieb bis Milton hinter ihr.
    Als sie die Tür aufschloss, schlugen ihr die muffigen Gerüche eines alten Hauses entgegen – Staub und zerschlissene Teppiche, vielleicht vermischt mit ein paar Schimmelsporen. Sie hatte gelesen, dass man von Schimmel krank werden konnte. Er konnte die Lunge schädigen, das Immunsystem dazu bringen, sich gegen den eigenen Körper zu wenden, und einen am Ende gar töten. Die letzte Bewohnerin war eine siebenundachtzigjährige Frau gewesen, die hier im Haus gestorben war. Vielleicht hatte der Schimmel ihr den Rest gegeben. Sie bildete sich ein, dass sie die tödlichen Partikel einatmete, als sie durch das Haus ging und sich wie immer vergewisserte, dass alle Fenster geschlossen und verriegelt waren; und sie sah eine gewisse Ironie darin, dass sie sich in ihrem Sicherheitswahn in versiegelten Räumen einschloss, deren Luft sie töten könnte.
    In der Küche setzte sie einen starken Kaffee auf. Viel lieber hätte sie sich jetzt einen kräftigen Wodka Tonic gemixt – so heftig war ihr Verlangen danach, dass sie sich fast wie eine Alkoholikerin vorkam. Schon ein kleiner Schluck hätte ihre Nerven beruhigt und dieses Gefühl der Bedrohung zerstreut, das jeden Winkel dieses Hauses zu durchdringen schien. Aber heute Abend würde sie besser auf Wodka verzichten, und so beherrschte sie sich. Stattdessen trank sie Kaffee, gerade genug, um ihre Sinne zu schärfen, ohne dass ihre Nerven flatterten. Sie brauchte vor allem gute Nerven.
    Bevor sie zu Bett ging, warf sie noch einen letzten Blick aus dem Wohnzimmerfenster. Die Straße war ruhig – also war es heute Nacht vielleicht noch nicht so weit. Vielleicht war ihr noch einmal ein Aufschub gewährt worden. Wenn ja, dann war er nur von kurzer Dauer, wie bei einer Todeskandidatin, die jeden Morgen in ihrer Zelle aufwacht und nicht weiß, ob heute der Tag ist, an dem sie den Gang zum Schafott antreten muss.
    Nicht zu wissen, wann die letzte Stunde schlagen

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